Situation
Übersetzungen:
- chin. 無 (wu), jap. 無 (mu), häufig übersetzt mit "Nichts" (siehe Skizze);
- 情 (jap. jou; chin: qíng)
Synonyme:
- Heidegger: Verweisungszusammenhang, Bewandtnisganzheit
- Merleau-Ponty: Bedeutungseinheit
Situation, Subjekt, Objekt
- Es gibt häufig die Tendenz, sich auf die Subjekt-Objekt-Achse zu fokussieren (Subjekt-/Objekt-Philosophie)
- Der Fokus auf die Situation erlaubt es, das strukturelle Problem überhaupt erst zu erkennen und dann lösen zu können. (Beispiel bei Max Wertheimer: Einsteins Entdeckung der Relativitätstheorie)
Definition
Siehe: Situationsontologie
Eine Situation (auch: topisches Feld) ist
- ganzheitlich, d.h. nach außen abgehoben und in sich zusammengehalten. Die Ganzheit der Situationen geht also der Einzelheit oder numerischen Einheit grundsätzlich vor.
- bedeutsam, d.h. sie wird durch eine Bedeutsamkeit zusammengehalten, welche aus Bedeutungen besteht.
- binnendiffus, d.h. in ihr ist nicht alles (eventuell gar nichts) einzeln.
Der Mensch behauptet sich in seiner Umgebung, indem er Situationen als Konstellationen einzelner Faktoren rekonstruiert, ohne die Bedeutsamkeit der Situationen dadurch ausschöpfen zu können; die Rekonstruktion bleibt ein probierendes Anfassen.
Ganzheit der Situation
Abgehobenheit
- so abgehoben, dass man es mit einem Schlage innehat, und schlagartig wieder identifizieren kann, ohne verschwimmende Ränder
- nicht zu verwechseln mit der Geschlossenheit eines Systems
Zusammenhalt
- diffuser Zusammenhalt im Inneren durch Bedeutsamkeit
Vgl: Mannigfaltigkeit und 道: dou, dào
Binnendifussion
Subjekt- und Situationsorientierung
Im Umgang mit einer Situation kann es widerstrebende Interessen und Orientierungen geben, die sich gegenseitig blockieren:
- Subjektorientierte Ziele: Bedürfnisse einer Person. Das Ich spielt eine dominante Rolle.
- Situationsorientierte Ziele: strukturelle Aufgaben der Situation. Das Ich spielt keine dominante Rolle.
Die Kräfte in der Situation können von zweierlei Art sein.
- In vielen Beispielen ist es die strukturelle Natur der sachlichen Situation, die die Vektoren und Schritte wesentlich bestimmt, während das Ich und seine persönlichen Interessen und Strebungen nur eine geringe Rolle oder gar keine spielen. Wenn konkrete Ich-Tendenzen in das Bild kommen, wirken sie oft verwirrend.
- Es gibt andere Fälle, in denen persönliche Bedürfnisse die Quelle des Problems sind. Hier spielt das Ich eine bedeutsame Rolle. (MW-PD 228)
Situation, Atmosphäre, Gefühl
Situationen werden fast immer von gefühlsträchtigen Atmosphären durchzogen. (Vgl: S-WNP 248)
Nur nicht in Gefahrensituationen, in denen der Schreck und der Bedarf sofortiger Reaktion das Fühlen blockieren. (Vgl: S-WNP 249)
Situationen sind meist durchzogen von Gefühlen. (Vgl: S-DzB 24)
Situation und Leib
Situation und Sprache
Anbindung von Situationen
Ohne dingliche Anbindung
Mit dinglicher Anbindung
Wenn es eine dingliche Anbindung gibt, dann müssten Situationen und Gefühle genau so objektiv sein, wie die Dinge, an denen sie anhaften. Siehe dazu: Objektivität der Gefühle
Beispiele
Situationen sind alle motorischen Kompetenzen und ihre Ausübung, also jede zweckmäßig, unwillkürlich oder willkürlich, geführte freie Gliederbewegung, z.B. beim Kauen fester Nahrung, beim Sprechen oder bei der Abwehr von Gefahren. In allen solchen Fällen wird vieles verstanden (Sachverhalte), vorgenommen (Programme), ohne dass mehr als weniges davon einzeln bewusst wird (gar nichts bei ganz unwillkürlichem Tun.) (S-KE 47f)
Wer z.B. auf regennasser, dicht befahrener Straße durch geschicktes Ausweichen, Bremsen oder Beschleunigen des Autos einen drohenden Unfall entkommt, hat die relevanten Sachverhalte,
- die Probleme des zunächst drohenden Zusammenstoßes und der bei Ausweichen eventuell hinzukommenden Bedrohungen ähnlicher Art und
- die Programme möglicher Rettung
mit einem Schlag (in antagonistischer Einleibung) erfasst und auch schon zweckmäßig beantwortet, ohne zur Vereinzelung dieser Bedeutungen Zeit zu haben, außer allenfalls bei einem schmalen Teil davon. In solchen Fällen präsentiert sich die ganze Bedeutsamkeit der Situation auf einen Schlag. (S-KE 48)
Beispiele für vielsagende Eindrücke (impressive Situationen), die an leiblich spürbaren Kräften abgelesen werden und ordnend das Weltgeschehen durchziehen:
Anaximenes | Straffe | Schlaffe |
---|---|---|
Parmenides | das Flinke | das Schwerfällig-Sperrige |
Pyhtagoreer | das Unruhige, Vielfältige | das Beharrende, Gerade |
Empedokles | Liebe (als Freude und Aphrodite in den Gliedern der Sterblichen) | Streit |
Unterscheidungen
- nach der augenblicklichen Gegebenheit: impressiv - segmentiert
- nach dem zeitlichen Verlauf: aktuell - zuständlich
impressiv
- vielsagende Eindrücke (-> gewöhnlich aktuelle Situtionen): kommen schon im Augenblick mit ihrer integrierenden Bedeutsamkeit ganz zum Vorschein
- Bsp: Gefahrensituationen, die man ganzheitlich erfassen und mit einem Schlage treffend beantworten muss
segmentiert
- kommt nicht im Augenblick mit ihrer integrierenden Bedeutsamkeit ganz zum Vorschein
- können sich zu impressiven zusammenziehen, von denen sie plakatiert werden (Plakat-Situationen), also der vielsagende "erste Eindruck".
- Plakat-Situation (kann über nächstere trügen)
- plakatierten Situation
Siehe: Plakatierung
aktuell
- wenn sich dieser Verlauf in beliebig dicht gesetzten Querschnitten auf Veränderungen prüfen lässt
zuständlich
- Prüfung auf Veränderungen ist nur nach hinlänglich langen Fristen sinnvoll
- Bsp: Sprachen, Institutionen, Freundschaften, Feindschaften, persönliche Situationen
Typen
impressiv | segmentiert | |
---|---|---|
aktuell | (ia) Gefahrensituationen | (sa) "durchblitzende Gespräche" |
zuständlich | (iz) das "Bild" eines Menschen | (sz) Sprachen, Ehe, Familie |
aktuell impressiv
- Gefahrensituationen
aktuell segmentiert
- Bsp. Gespräche mit einer nur fragmentarisch durchblitzenden integrierenden, binnendiffusen Bedeutsamkeit
- Bsp. Probleme, an denen man ratlos grübelt
zuständlich impressiv
- Bsp. das "Bild", das man sich von einem Menschen macht, den man gut zu kennen glaubt
- Bsp. der typische oder individuelle Charakter eines Dinges, der sich im Wechsel seiner Gesichter durchhält, mit integrierende binnendiffuser Bedeutsamkeit
zuständlich segmentiert
Inkludierende und implantierende Situationen
Inkludierende Situationen
Erstere stehen nicht im Widerspruch zum wurzellosen Individualismus und schwebenden Ironismus, die Schmitz als autistische und ironistische Verfehlungen des abendländischen Geistes bezeichnet. Includierende Situationen nennt Schmitz auch Konstellationen, es sind zu Konstellationen zersetzte Situationen, die dadurch charakterisiert sind, dass sie einem Selbst "die Freiheit lassen, sich unbeschadet aus ihnen zu lösen; ich denke etwa an Konventionen, äußerlich bleibende Lebens- und Umgangsformen und Kollektive Standpunkte für 'Mitläufer', an beherrschte Fremdsprachen u. dgl." Includierende Situationen sind temporäre Gefüge, die Teilnahme an ihnen ist als für subjektive Wahl offen anzusehen, sie sind relativ flüchtig und austauschbar. (Heubel 44)
Implantierende Situationen
Dem kontrastieren Situationen im emphatischen Sinne, die implantierende Situation, welche im Selbst "so tiefe Wurzeln schlägt, dass sie nicht leicht und, wenn überhaupt, nur allmählich und mit erheblichen Wunden herausgerissen werden kann. Dazu gehören Situationen, aus denen die Persönlichkeit durch Tradition und frühe Sozialisation hervorwächst, und solche in die sie hineinwächst, z.B. durch Gemeinschaft mit einem Lebenspartner." (S-AHG 24) (Heubel 44)
Besondere Situationen
Persönliche Situation
Veränderung von Situationen
Veränderung aktueller Situationen durch zuständliche Situationen
Veränderung durch personale Situationen
- durch persönliche Situation
Veränderung durch überpersönliche Situationen
- durch Sprache
Entstehung zuständlicher Situationen aus aktuellen Situationen
Entstehung neuer Situationen
Therapeutisches Vorgehen zur Veränderung von Situationen
Bewältigung von Situationen
- durch leibliche Kommunikation (Menschen wie Tiere): Leibliche Intelligenz
- durch Explikation: Hermeneutische Intelligenz
Siehe: Privative Weitung, Ursprung der Sprache: privative Weitung
Plakatierung: Plakat-Situation
In der Regel plakatiert eine impressive Situation (Plakat-Situation) eine segmentierte (plakatierte Situation). Segmentierte können sich zu impressiven gleichsam zusammenziehen.
Bsp:
- bei der ersten Begegnung eines Menschen erhält man bereits einen prägnanten, vielsagenden Eindruck
- die Figur des Bamberger Reiters, in der der "hohe Mut" der mittelalterlichen Adels- und Ritterkultur, einer segmentierten Situation mit binnendiffuser Bedeutsamkeit, schlagartig aufscheint.
- Jesus im Gedicht von Tersteegen: "Ich bete an die Macht der Liebe, die sich in Jesus offenbart."
(S-DzB 25)
Explikation: Meisterung von Situationen durch Konstellationen
Skizzen: Einzelnes und Konstellation
Siehe: Topisches Verhältnis, Duales Verhältnis, Konstellation, Chaotische Mannigfaltigkeit, Entfaltete Gegenwart
Die therapeutische Aufstellung als Konstellation, die helfen soll problematische Situationen zu meistern.
Übertriebene Meisterung durch Reduktionismus mittels Konstellationen: Konstellationismus
Explikation durch Rede
Aufhebung des Situationsdrucks mittels Explikation durch Rede
Aufhebung des Situationsdrucks durch Rede:
- Der Druck Einzelnes aus einer Situation durch Sprache zu explizieren.
- Privative Weitung mittels Sprache lockert den Situationsdruck.
Explikation durch leibliche Aufstellung
Siehe: Aufstellung als leibliche Explikation
Hervorbringung der Konstellation als Prozess
Siehe: Aufstellung als therapeutischer Prozess der Herausbildung von Konstellationen aus Situationen
Situation als Etwas
Situation als System
Siehe: System als Situation
Situation als gemeinsames Medium von Subjekt und Objekt
In der Situation gibt es noch keine Trennung zwischen Subjekt und Objekt jedoch schon eine explizierbare topologische Struktur.
Wie schon Heidegger lehnt Schmitz es ab, die Frage wie das Subjekt aus sich heraus zum Objekt kommen könnte, als Grundfrage der Erkenntnistheorie anzusehen. Wie das Subjekt die Brücke zum Objekt schlagen könne und umgekehrt sei eine Scheinfrage, weil die Situationen immer schon das gemeinsame Medium von Subjekt und Objekt bildeten. (Heubel 42)
Situation als Bild
Siehe: Bild als Situation
Zitate
Geschichte des Situationsbegriffes
Bei den Versuchen zur Einführung eines Situationsbegriffs lassen sich fünf Tendenzen beobachten:
- die Verabschiedung der Vorstellung einer additiven Konfrontation von Erkennendem und Erkanntem, stattdessen die Auffassung des Verhältnisses als Verstricktsein, Eingebettetsein
- die Erweiterung, Auffüllung des Objektpools; die Betonung seiner Geschlossenheit, seiner Abgehobenheit durch eine Ganzheitlichkeit
- die theoretische Entdeckung eines neuen Mannigfaltigkeitstypus, der chaotischen Mannigfaltigkeit (erst in der Neuen Phänomenologie)
- die Geladenheit der Situationen mit Bedeutsamkeit; die Bestandteile von Situationen sind nicht primär materielle Dinge, sondern Sachverhalte, Programme und Probleme
- die Bewegung von Einzahl-Konzepten ("die Welt") hin zur Pluralität von Situationen (MG-DSidP 115)
Den Begriff der Situation - im Sinne eines durch Handeln strukturierten und im Handlungsvollzug erschlossenen Dingzusammenhangs - entlehnen wir Satre und Merleau-Ponty;
- vgl.: Satre, Das Sein und das Nichts, S. 833-950
- Merleau-Ponty, Phänomenologie der Wahrnehmung, S. 102-104, sowie Merleau-Ponty, Die Struktur des Verhaltens, S. 61-70.
- Sehr verwandt ist der Begriff der 'Bewandtnisganzheit' bei Heidegger. Die Grundprobleme der Phänomenologie, S. 231-242.
Hegel: Geist
Fritz Mauthner
Quelle: Beiträge zu einer Kritik der Sprache: Dritter Band: Zur Grammatik und Logik, Stuttgart/ Berlin 1902, S. 117, 231.
Situation = Summe der gegenwärtigen Sinneseindrücke
Siehe: Prädikat und Situation als Basis
Ludwig Klages
Max Scheler
Husserl
Husserl, von dem der Begriff der Situation, wie auch der des Phänomens seinen Ausgang nimmt, gebraucht den Begriff in zweifacher Hinsicht,
- zum einen zur Kennzeichnung des historischen oder auch philosophischen Kontextes einer Handlung
- und zum anderen zur Umschreibung einer leiblichen Artikulationsform.
Heidegger
Weiteres über »Situation«:
- Jede Situation ist ein »Ereignis« und kein »Vorgang«. Das Geschehene hat Beziehung zu mir; es strahlt ins eigene Ich hinein.
- Die Situation hat eine relative Geschlossenheit.
- Unabgehobenheit des Ich in der Situation. Das Ich braucht nicht im Blick zu sein, es schwimmt in der Situation mit. (MH-ZBdP 206)
Siehe: Heidegger als Vorreiter des erkenntnistheoretischen Explikationismus
Merleau-Ponty
Quellen aus MP-PdW:
zu gemeinsamen zuständlichen Situationen im Sinne von Schmitz: