Situation
Übersetzungen: chin. 無 (wu), jap. 無 (mu), häufig übersetzt mit "Nichts" (siehe Skizze)
Definition
Siehe: Situationsontologie
Eine Situation (auch: topisches Feld) ist
- ganzheitlich, d.h. nach außen abgehoben und in sich zusammengehalten. Die Ganzheit der Situationen geht also der Einzelheit oder numerischen Einheit grundsätzlich vor.
- bedeutsam, d.h. sie wird durch eine Bedeutsamkeit zusammengehalten, welche aus Bedeutungen besteht.
- binnendiffus, d.h. in ihr ist nicht alles (eventuell gar nichts) einzeln.
Der Mensch behauptet sich in seiner Umgebung, indem er Situationen als Konstellationen einzelner Faktoren rekonstruiert, ohne die Bedeutsamkeit der Situationen dadurch ausschöpfen zu können; die Rekonstruktion bleibt ein probierendes Anfassen.
Ganzheit der Situation
Abgehobenheit
- so abgehoben, dass man es mit einem Schlage innehat, und schlagartig wieder identifizieren kann, ohne verschwimmende Ränder
- nicht zu verwechseln mit der Geschlossenheit eines Systems
Zusammenhalt
- diffuser Zusammenhalt im Inneren durch Bedeutsamkeit
Situation, Atmosphäre, Gefühl
Situationen werden fast immer von gefühlsträchtigen Atmosphären durchzogen. (Vgl: S-WNP 248)
Nur nicht in Gefahrensituationen, in denen der Schreck und der Bedarf sofortiger Reaktion das Fühlen blockieren. (Vgl: S-WNP 249)
Situationen sind meist durchzogen von Gefühlen. (Vgl: S-DzB 24)
Situation und Leib
Anbindung von Situationen
Ohne dingliche Anbindung
Mit dinglicher Anbindung
Wenn es eine dingliche Anbindung gibt, dann müssten Situationen und Gefühle genau so objektiv sein, wie die Dinge, an denen sie anhaften. Siehe dazu: Objektivität der Gefühle
Beispiele
Situationen sind alle motorischen Kompetenzen und ihre Ausübung, also jede zweckmäßig, unwillkürlich oder willkürlich, geführte freie Gliederbewegung, z.B. beim Kauen fester Nahrung, beim Sprechen oder bei der Abwehr von Gefahren. In allen solchen Fällen wird vieles verstanden (Sachverhalte), vorgenommen (Programme), ohne dass mehr als weniges davon einzeln bewusst wird (gar nichts bei ganz unwillkürlichem Tun.) (S-KE 47f)
Wer z.B. auf regennasser, dicht befahrener Straße durch geschicktes Ausweichen, Bremsen oder Beschleunigen des Autos einen drohenden Unfall entkommt, hat die relevanten Sachverhalte,
- die Probleme des zunächst drohenden Zusammenstoßes und der bei Ausweichen eventuell hinzukommenden Bedrohungen ähnlicher Art und
- die Programme möglicher Rettung
mit einem Schlag (in antagonistischer Einleibung) erfasst und auch schon zweckmäßig beantwortet, ohne zur Vereinzelung dieser Bedeutungen Zeit zu haben, außer allenfalls bei einem schmalen Teil davon. In solchen Fällen präsentiert sich die ganze Bedeutsamkeit der Situation auf einen Schlag. (S-KE 48)
Beispiele für vielsagende Eindrücke (impressive Situationen), die an leiblich spürbaren Kräften abgelesen werden und ordnend das Weltgeschehen durchziehen:
Anaximenes | Straffe | Schlaffe |
---|---|---|
Parmenides | das Flinke | das Schwerfällig-Sperrige |
Pyhtagoreer | das Unruhige, Vielfältige | das Beharrende, Gerade |
Empedokles | Liebe (als Freude und Aphrodite in den Gliedern der Sterblichen) | Streit |
Unterscheidungen
- nach der augenblicklichen Gegebenheit: impressiv - segmentiert
- nach dem zeitlichen Verlauf: aktuell - zuständlich
impressiv
- vielsagende Eindrücke (-> gewöhnlich aktuelle Situtionen): kommen schon im Augenblick mit ihrer integrierenden Bedeutsamkeit ganz zum Vorschein
- Bsp: Gefahrensituationen, die man ganzheitlich erfassen und mit einem Schlage treffend beantworten muss
segmentiert
- kommt nicht im Augenblick mit ihrer integrierenden Bedeutsamkeit ganz zum Vorschein
- können sich zu impressiven zusammenziehen, von denen sie plakatiert werden (Plakat-Situationen), also der vielsagende "erste Eindruck".
- Plakat-Situation (kann über nächstere trügen)
- plakatierten Situation
Siehe: Plakatierung
aktuell
- wenn sich dieser Verlauf in beliebig dicht gesetzten Querschnitten auf Veränderungen prüfen lässt
zuständlich
- Prüfung auf Veränderungen ist nur nach hinlänglich langen Fristen sinnvoll
- Bsp: Sprachen, Institutionen, Freundschaften, Feindschaften, persönliche Situationen
Typen
impressiv | segmentiert | |
---|---|---|
aktuell | (ia) Gefahrensituationen | (sa) "durchblitzende Gespräche" |
zuständlich | (iz) das "Bild" eines Menschen | (sz) Sprachen, Ehe, Familie |
aktuell impressiv
- Gefahrensituationen
aktuell segmentiert
- Bsp. Gespräche mit einer nur fragmentarisch durchblitzenden integrierenden, binnendiffusen Bedeutsamkeit
- Bsp. Probleme, an denen man ratlos grübelt
zuständlich impressiv
- Bsp. das "Bild", das man sich von einem Menschen macht, den man gut zu kennen glaubt
- Bsp. der typische oder individuelle Charakter eines Dinges, der sich im Wechsel seiner Gesichter durchhält, mit integrierende binnendiffuser Bedeutsamkeit
zuständlich segmentiert
Plakat-Situation
In der Regel plakatiert eine impressive Situation (Plakat-Situation) eine segmentierte (plakatierte Situation). Segmentierte können sich zu impressiven gleichsam zusammenziehen.
Bsp:
- bei der ersten Begegnung eines Menschen erhält man bereits einen prägnanten, vielsagenden Eindruck
- die Figur des Bamberger Reiters, in der der "hohe Mut" der mittelalterlichen Adels- und Ritterkultur, einer segmentierten Situation mit binnendiffuser Bedeutsamkeit, schlagartig aufscheint.
- Jesus im Gedicht von Tersteegen: "Ich bete an die Macht der Liebe, die sich in Jesus offenbart."
(S-DzB 25)
Inkludierende und implantierende Situationen
Inkludierende Situationen
Erstere stehen nicht im Widerspruch zum wurzellosen Individualismus und schwebenden Ironismus, die Schmitz als autistische und ironistische Verfehlungen des abendländischen Geistes bezeichnet. Includierende Situationen nennt Schmitz auch Konstellationen, es sind zu Konstellationen zersetzte Situationen, die dadurch charakterisiert sind, dass sie einem Selbst "die Freiheit lassen, sich unbeschadet aus ihnen zu lösen; ich denke etwa an Konventionen, äußerlich bleibende Lebens- und Umgangsformen und Kollektive Standpunkte für 'Mitläufer', an beherrschte Fremdsprachen u. dgl." Includierende Situationen sind temporäre Gefüge, die Teilnahme an ihnen ist als für subjektive Wahl offen anzusehen, sie sind relativ flüchtig und austauschbar. (Heubel 44)
Implantierende Situationen
Dem kontrastieren Situationen im emphatischen Sinne, die implantierende Situation, welche im Selbst "so tiefe Wurzeln schlägt, dass sie nicht leicht und, wenn überhaupt, nur allmählich und mit erheblichen Wunden herausgerissen werden kann. Dazu gehören Situationen, aus denen die Persönlichkeit durch Tradition und frühe Sozialisation hervorwächst, und solche in die sie hineinwächst, z.B. durch Gemeinschaft mit einem Lebenspartner." (S-AHG 24) (Heubel 44)
Veränderung von Situationen
Veränderung aktueller Situationen durch zuständliche Situationen
Veränderung durch personale Situationen
- durch persönliche Situation
Veränderung durch überpersönliche Situationen
- durch Sprache
Entstehung zuständlicher Situationen aus aktuellen Situationen
Entstehung neuer Situationen
Besondere Situationen
Persönliche Situation
Situation als gemeinsames Medium von Subjekt und Objekt
In der Situation gibt es noch keine Trennung zwischen Subjekt und Objekt jedoch schon eine explizierbare topologische Struktur.
Wie schon Heidegger lehnt Schmitz es ab, die Frage wie das Subjekt aus sich heraus zum Objekt kommen könnte, als Grundfrage der Erkenntnistheorie anzusehen. Wie das Subjekt die Brücke zum Objekt schlagen könne und umgekehrt sei eine Scheinfrage, weil die Situationen immer schon das gemeinsame Medium von Subjekt und Objekt bildeten. (Heubel 42)
Situation als System
Siehe: System als Situation
Situation als Bild
Siehe: Bild als Situation
Bewältigung von Situationen
- durch leibliche Kommunikation (Menschen wie Tiere): Leibliche Intelligenz
- durch Explikation: Hermeneutische Intelligenz
Situation und Konstellation
Siehe: Topisches Verhältnis, Duales Verhältnis, Konstellation, Chaotische Mannigfaltigkeit, Entfaltete Gegenwart
Meisterung von Situationen durch Konstellationen
Die therapeutische Aufstellung als Konstellation, die helfen soll problematische Situationen zu meistern.
Übertriebene Meisterung: Konstellationismus
Hervorbringung der Konstellation als Prozess
Siehe: Aufstellung als therapeutischer Prozess der Herausbildung von Konstellationen aus Situationen
Zitate
Geschichte der Situation
Bei den Versuchen zur Einführung eines Situationsbegriffs lassen sich fünf Tendenzen beobachten:
- die Verabschiedung der Vorstellung einer additiven Konfrontation von Erkennendem und Erkanntem, stattdessen die Auffassung des Verhältnisses als Verstricktsein, Eingebettetsein
- die Erweiterung, Auffüllung des Objektpools; die Betonung seiner Geschlossenheit, seiner Abgehobenheit durch eine Ganzheitlichkeit
- die theoretische Entdeckung eines neuen Mannigfaltigkeitstypus, der chaotischen Mannigfaltigkeit (erst in der Neuen Phänomenologie)
- die Geladenheit der Situationen mit Bedeutsamkeit; die Bestandteile von Situationen sind nicht primär materielle Dinge, sondern Sachverhalte, Programme und Probleme
- die Bewegung von Einzahl-Konzepten ("die Welt") hin zur Pluralität von Situationen (MG-DSidP 115)
Fritz Mauthner
Quelle: Beiträge zu einer Kritik der Sprache: Dritter Band: Zur Grammatik und Logik, Stuttgart/ Berlin 1902, S. 117, 231.
Situation = Summe der gegenwärtigen Sinneseindrücke