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Einführung

Das Projekt Systemische Phänomenologie hat folgenden Focus:

  • Neue Phänomenologie für systemische Therapeuten und Coaches
  • Klärung des Verhältnisses von Neuer Phänomenologie und Systemtheorie
  • Brückenschlag zwischen Phänomenologie und Konstruktivismus, und damit zwischen dem Selbstverständnis systemisch-konstruktivistischer
  • systemische Beziehung zum Phänomen ist wichtiger als das Phänomen selbst

Weder bei der Systemtheorie noch bei der Phänomenologie lässt sich von einem einheitlichen Ansatz sprechen, so beschränke ich mich auf die konkrete Aufgabe, die systemische Therapie- und Beratungsansätze mit der Neuen Phänomenologie von Hermann Schmitz zu konfrontieren um daraus systemische Phänomenologie zu entwickeln, die als Brückenglied gelten kann.

Ontologie

In der Ontologie geht es um die Frage, was ist. Dazu gibt es drei typische Antworten, die wie folgt unterschieden werden können:

Dingontologie Prozessontologie Situationsontologie
Aussage Es gibt einzelne festkörperliche Dinge, der verbunden sein können. Es gibt Prozesse, in denen Operationen verkettet sind. Es gibt Situationen, in denen sich Lebewesen befinden.
Vertreter Aristoteles, Leibniz, Kant Mach, Whitehead, Wittgenstein Plotin, Hegel, Dilthey, Heidegger


Dingontologie

Dingontologien (auch: Substanzontologien) gehen davon aus, dass die Welt aus

  1. lauter Dingen in Form von Festkörpern besteht,
  2. die Eigenschaften haben
  3. und in Beziehung zu einander stehen können.

Der Fokus der Dingontologie liegt also auf den Dingen, erst dann kommen die Eigenschaften und die geringste Bedeutung haben traditionell die Relationen. Im Kontakt mit Menschen würde man also zunächst fragen, wer jemand ist, dann wie er ist, und zuletzt, mit wem er in Beziehung steht.
Das ontologische Leitbild ist der einzelne feste Körper im zentralen Gesichtsfeld und nichts Flüssiges oder Gasförmiges, in dem man sich befindet. Dieser Festkörperglauben dominiert gewöhnlich unser Alltagshandeln und -denken, wenn wir nach Dingen greifen oder Nahrung zu uns nehmen. So gesehen kann diese Dingontologie auch evolutionäre Vorteile haben, z.B. wenn man auf Nahrungssuche geht und unsere Aufmerksamkeit sich auf ergreifbare Dinge richtet. Auch lässt sich mit einem dingontologischen Zugang leicht eine intersubjektive Einigung erzielen, wenn man fragt, wie viele Dinge sich wo befinden und welche abzählbare Merkmale sie haben.
Dingontologien stehen indoeuropäischen Sprache sehr nahe, da wir es gewöhnt mit vielen Nomen zu sprechen, die auch im Satz häufig als Subjekt unerlässlich sind und durch Attribute beschrieben werden. Auch sind "Was ist ...?"-Fragen in der Wissenschaft sehr beliebt, die dann über eine Aufzählung von Attributen und Relationen beantwortet werden und von Studenten häufig auswendig gelernt werden müssen.
Geschichtlich dominiert das dingontologische Denken fast die gesamte europäische Philosopiegeschichte seit Demokrit (460-380 v.Chr.), und wird von vielen bekannten Philosophen wie Platon, Aristoteles, Leibniz, Locke, Kant und Husserl häufig unhinterfragt übernommen.

Prozessontologie

Für Prozessontologien stehen Prozesse im Vordergrund, die aus verketteten Ereignissen bestehen. Man spricht daher auch von Ereignisontologien, welche statt einzelne Dinge auf den Fluss von Ereignisse fokussieren. Im Unterschied zu Dingontologien gibt es keine feststehenden Dinge mit Eigenschaften mehr, sondern nur noch kurzzeitige Ereignisse, die durch Anschluss einem Prozess formen. In der strengen Form spricht von einer "aktualistischen Ereignisontologie" (Singer), in der es nur einzelne Ereignisse gibt. In der weiteren Form spricht man auch von Relationen zwischen den Ereignissen, wenn es zu einem Anschluss der Ereignisse kommt.
Die europäischen Prozessontologien sind häufig motiviert, eine Alternative zu Dingontologien zu schaffen und mehr Dynamik hineinzubringen. Man könnte auch von einem Wechsel des Aggregatzustandes von fest zu flüssig sprechen, der den Wechsel von Ding- zu Prozessontologien gut beschreibt. Nicht das feststehende ergreifbare Ding, sondern das durch die Hände rinnende Wasser wird zum ontologischen Leitbild erhoben.
Als Begründer der Prozessontologie in der europäischen Philosophie wird häufig Heraklit mit seinem Zitat "panta rhei" („Alles fließt“) benannt, aber eindeutig erst bekennt sich Wilhelm von Ockham (1288-1347) mit seinem Relationsverzicht zu einer strengen Prozess- und Ereignisontologie. Ihm folgen zahlreiche Denker wie: Avenarius, Hume, Fichte, Bergson, Whitehead, Mach, Wittgenstein, Cassirer. In der Systemtheorie ist Luhmann eindeutig Bekenner der Prozessontologie, wenn er – aus einer Ablehnung der Dingontologie heraus – die Verkettung von Operationen als Ereignisse zum Kern seines Systemmodells macht.

Situationsontologie

Die Situationsontologie geht davon aus, dass die Welt aus lauter Situationen besteht, d.h. aus chaotisch-mannigfaltigen Ganzheiten in denen es nicht nur Einzelheiten gibt sondern auch Ganzheitliches.
Mit Situationen sind nicht nur kurzzeitige Situationen gemeint, wie ein plötzliche Unfallsituation, sondern auch langwährende zuständliche Situationen, wie die Sprache oder eine Kultur, in der man sich sein ganzen Leben lang befinden kann.
Situationen sind chaotisch-mannigfaltig insofern, als dass sie nicht nur völlig Einzelnes enthalten. Der Unterschied zur Dingontologie besteht gerade darin, dass Situationen nichts Einzelnes sind, das man als Gegenüber ergreifen kann. In Absetzung zur Prozessontologie gibt es keine einzelnen Prozesse oder Ereignisse, sondern eine chaotische Mannigfaltigkeit, in der es noch keine Einzelheit oder gibt. Im Unterschied zur Ding- und Prozessontologie, in der er es jeweils diskretes Einzelnes gibt, findet sich in der Situationsontologie nur indiskretes Mannigfaltiges ohne Einzelheiten. Der zugehörige Aggregatzustand nicht fest (Ding) oder flüssig (Prozess) sondern gasförmig, es im dichtem Nebel auch eine einzelne Dinge oder Flüsse zu beobachten gibt.
Geschichtlich ist es nicht einfach, eindeutige Vertreter der Situationsontologie auszumachen, aber als prominente Namen lassen sich nennen: Hegel, Klages, Scheler, Heidegger, Schmitz.

Diskussion

Im systemischen Denken kursieren wenn auch meist versteckt unterschiedliche Ontologien, die selten klar benannt werden. Bezieht man sich auf Luhmann, vertritt man klar einen Ereignisontologie, bei der er es nur Operationen gibt.[1] Spricht man hingegen von Beziehungen, Relationen, Netzen und Netzwerken, dann liegt zumeist eine dingontologische Vorannahme zugrunde, auch wenn sie nicht expliziert wird. Es könnte helfen im systemischen Disurs diese ontologischen Vorannahmen zu klären, denn häufig sind Positionen unklar bzw. auch widersprüchlich, z.B. wenn man sich auf Luhmann bezieht und die besondere Rolle der Beziehung im systemischen Denken betont. Denn obwohl das Denken in Beziehungen für systemische Praktiker zum Alltag gehört, werden Beziehungen in Ding- als auch Prozessontologien relativ stiefmütterlich wenn nicht sogar abschätzig behandelt. So gibt Luhmann selbst zu, dass er mit Beziehungen wenig anfangen kann: "Ich kann mit dem Beziehungsbegriff immer relativ wenig anfangen." [2] In der triadischen Dingontologie sind Relationen ebenso als minderwertig angesehen und wenn überhaupt neben dem Wesen des Dings und seinen Eigenschaften nur als drittklassig behandelt. Diese abwertende Haltung gegenüber Relationen übernimmt man ebenso, wenn man sich auch auf die moderne Mengentheorie bezieht, wo der Unterschied zwischen Eigenschaften und Relationen bis zu Unkenntlichkeit eingeebnet wurde.
Für sytemische Praktiker und Denker, die den Qualität einer Relation grundlegend erfassen wollen, hilft also weder eine Bezugnahme zur Ding- als auch Prozessontologie weiter, auch wenn diese von systemischen Denkern vertreten werden. Eine Grundlegung der Beziehung kann nur aus der Situationsontologie gelegt werden, wenn verstanden wird, dass Behiehungen nur aus Verhältnissen gebildet werden können, die noch keine Einzelheit kennen. Eine Beziehung kann somit als Aufspaltung eines situativen Verhältnisses verstanden werden. Im Unterschied zur Beziehung ist ein Verhältnis richtungslos bzw. ungerichtet und auch ohne Einzelheit möglich. Nicht alle Verhältnisse sind in Beziehungen spaltbar: so z.B. ekstatische Zustände (Liebesekstase, ekstatisches gemeinsames Singen und Musizieren) oder auch Zustände der mystischen Versunkenheit. Für systemische Praktiker und Denker, die mehr in den Blick nehmen wollen als Beziehungen, wäre es also wichtig, sich auch nach Verhältnisse umzuschauen, die nicht spaltbar oder noch nicht gespalten sind.

Erkenntnistheorie

Die erkenntnistheoretische Position des systemischen Phänomenologie grenzt sich auf der einen Seite ab gegen einen dingontologischen Realismus der Sachen und auf der anderen Seite gegen einem prozessontologischen Konstruktivismus.

Realismus Konstruktivismus

(als konstruktiven Idealismus)

Explikationismus
Thomas von Aquin, Kant, Schelling Kant, Schopenhauer, Fichte Hegel, Dilthey, Heidegger
Realismus: nur nackte Tatsachen Absoluter Relativismus (in Beliebigkeit, wenn nicht sozial normiert) Moderater Relativismus (Anerkennung nackter Tatsachen in faktischer Betroffenheit)
Metapher Besuch: Es gibt vorgegebene Dinge, denen wir prinzipiell einen Besuch abstatten können. Besuch: Ersatzbefriedigung, da wir den Dingen keinen Besuch abstatten können. Ernte: Wir leben auf Feldern und ernten Früchte.
Spruch Erkenntnis ist das Erkennen des Ding-an-sichs. Erkenntnis wird aus einzelnen Sinneseindrücken synthetisiert und konstruiert. Erkenntnis ist eine Seinsart des In-der-Welt-seins. (Heidegger: SuZ 61)
Vorrangige Ontologie Dingontologie Prozessontologie Situationsontologie

Realismus

Der erkenntnistheoretische Realismus verfolgt das Reise- und Besuchsmodell der Erkenntnis. Erkenntnis kommt demnach wie ein Beutefang auf einer Jagd zustande: der Mensch verlässt die Höhle um auf Beutefang zu gehen und findet in der Außenwelt Kenntnisse über Objekte, die er gleichsam im Rucksack mit nach Hause in die Höhle trägt. Erkennen ist das Ergreifen von festen Dingen und Sachen ("res"), die man bei einem Besuch außerhalb der Höhle findet. Die Höhle jedoch ist dunkel und darin lassen sich keine Sachen erkennen.
Die strenge Variante des Realismus besagt, dass die Dinge als solche erkannt werden können. Die lockere Variante geht davon aus, dass man durch den (aktiven oder passiven) Besuch an den Sachen beschreibende Züge abgelesen und feststellen kann (Erkenntnistheoretischer Deskriptivismus). Die Naturwissenschaften gehen methodisch so vor, dass sie nach realistischen Beschreibungen suchen um daraus die Zukunft zu prognostizieren oder gar mit technischem Handwerk zu gestalten. Jedoch kann von einer erfolgreichen Prognose oder einer erfolgreichem Gestaltungsexperiment nicht notwendigerweise auf die Korrektheit der realistischen Beschreibung geschlossen oder gar der Realismus als erkenntnistheoretische Postionen bewiesen werden.

Konstruktivismus

Der Konstruktivismus beschreibt, wie Erkenntnis möglich ist, wenn das Tier die Höhle nicht verlassen kann. Als Ersatzbefriedigung wandert es in der Höhle herum und sucht dort nach einzelnen Dingen aus denen es etwas bauen kann. Das Konstruierte ist dann stets die Neukombination von Einzelnem, das nur von Innen kommen kann. Von Außen könnte maximal die Aufforderung kommen, etwas neues zu suchen und daraus etwas zu bauen. Die gehörte Aufforderung wäre jedoch streng genommen selbst eine Konstruktion.
Der Konstruktivismus tritt in verschiedenen Formen auf, und hat deutliche Überschneidungen mit dem erkenntnistheoretischen Realismus und Explikationismus:

  • Der Radikale Konstruktivismus ist eine Extremposition und leugnet die Erkenntnis einer unabhängigen Realität. Da alle Erkenntnis als Konstruktion angesehen wird, kann es daher auch kein Erkenntnissubjekt als sich erlebenden Konstrukteur mehr geben. Als Extremposition ist diese Position nur im Rahmen einer konsequenten Prozessontologie denkbar, in der es nur nur Operationen als objektive Sachverhalte gibt.[3]
  • Der Neurokonstruktivismus (z.B. G. Roth) beruft sich auf die naturwissenschaftliche Hirnforschung, und geht damit eine Koalitation mit dem reduktionistischen Realismus ein. Er kombiniert damit auf seltsame Weise den konstruktivistischen Antirealismus gegenüber der Welt mit dem Realismus der (Neuro-)Naturwissenschaft und widerspricht sich damit letztlich selbst. Von den meisten systemischen Praktikern wird dieser Widerspruch zwischen Konstruktivismus und neurowissenschaftlichem Realismus gar nicht als solcher erkannt oder letztlich fahrlässig in Kauf genommen, da man sich von einer in Mode gekommenen neurowissenschaftlichen Argumentation Legitimations- und Marktvorteile verspricht. Im Therapiekontext scheint es legitim, eine neurowissenschaftliche Begründung der Wirksamkeit von therapeutischen Interventionen anzubieten, aber als Begründung einer erkenntnistheoretischen Position ist diese Strategie nicht haltbar.
  • Der sozialer Konstruktivismus (z.B. K. J. Gergen) beruft sich auf auf die sozialen Abstimmungsprozesse der Konstruktionen und rückt damit in die Nähe des Explikationismus, der ebenso von einer grundlegenden Einbettung alles Seins in Situation ohne Identität und Einzelheit ausgeht. Ein so verstandener sozialer Konstruktivismus deckt sich aber erst dann mit dem erkenntnistheoretischen Explikationismus, wenn er die zentrale singularistische Annahmen des Konstruktivismus fallen lässt, dass die Welt aus lauter Einzelnem besteht.

Da alle Spielarten des Konstruktivismus die Auffassung teilen, dass alle Gedanken und Gefühle innere Zustände sind (unabhängig von der Erklärung, wie sie zustande kommen), setzen sie den Introjektionismus und Projektionismus voraus, welcher besagt: Alle Qualitäten sind letztlich innere Zustände des Subjektes, der diese Qualitäten nur zumeist unreflektiert in die objektive Außenwelt projiziert, und daher scheinbar dort erlebt.
Geschichtlich ist der Konstruktivismus eine moderne Variante des konstruktiven Idealismus wie bei Kant, Schopenhauer oder Fichte. Sie alle betonen die synthetisierende und konstruierende Leistung des Erkenntnissubjektes im Unterschied zum einer passiven und rein rezeptiven Haltung.
In der systemischen Therapie-Szene wird sich häufig auf den Konstrutivismus berufen, vermutlich aus mehreren Gründen:

  • Der Konstruktivismus verspricht durch seinen Aussage, dass die Wahrnehmung innerlich konstruiert und damit jederzeit veränderbar ist, veränderungsorientiertes Arbeiten in Psychotherapie und Beratung zu legitimieren.
  • Der Konstruktivismus lässt sich scheinbar objektiv-neurowissenschaftlich begründen, woraus sich die Hoffnung speist, dass auch eine systemisch-konstruktivistische Therapie neurowissenschaftlich fundiert ist und dem neusten Stand der Wissenschaft entspricht.

Siehe: Introjektionismus, Projektionismus

Explikationismus

Im Unterschied zum Realismus und Konstruktivismus geht der Explikationismus als Erkenntnistheorie nicht von dem Bild einer Höhle aus, in dem sich das erkennende Subjekt befindet, sondern von dem Bild eines Ackers, auf dem wir leben und ernten können. Der Acker ist also als Situation zu verstehen, in der wir uns als Bauer befinden und aus der wir schöpfen können.[4] Der Explikationismus setzt der Erkenntnismetapher des Besuchs der der Ernte entgegen, um deutlich zu machen, dass er sowohl die introjektionistische Annahme des Konstruktivismus als auch die singularistische Annahme des Realismus nicht teilt. Wir müssen uns daher nicht entscheiden, ob wir aus der Höhle ausbrechen oder nicht, weil wir gar nicht in der Höhle leben, sondern immer schon im freien Feld, das geerntet werden kann. Der Explikationismus bietet daher eine Alternative zu den singularistischen und introjektionistischen Vorannahmen der zwei anderen erkenntnistheoretischen Positionen. Das Leitbild des Explikationismus ist weder der in sich gekehrte Denker noch der reisende Entdecker, sondern ein bodenständiger Bauer. Erkenntnis ist kein Suchen oder Besuch von etwas, sondern eine Seinsart des In-der-Welt-Seins.[5]
Einig sind sich Realismus und Konstruktivismus in der singularistischen Annahme, dass lediglich Einzelnes existiert, entweder innerhalb oder außerhalb der Höhle. Auf die Idee, dass es Einzelnes überhaupt nicht gibt, was man erkennen könnte, kommen sie nicht. Der erkenntnistheoretische Explikationismus ist in diesem Sinn daher systemisch, wenn er davon ausgeht, dass Einzelnes nicht per se existiert, sondern das Identifizieren von Einzelnem selbst wieder eine höhere Erkenntnis- und Explikationsleistung ist. Der Explikationismus geht also daher davon aus, dass ganzheitliche einbettende Situationen und nicht Einzelnes Grundlage unserer Wahrnehmung ist.
Vertreter des erkenntnistheoretischen Explikationismus sind: Hegel, Dilthey, Heidegger, Schmitz.

Diskussion

Der Explikationismus ist bislang in der sytemischen Welt weitgehend unbekannt, was dazu führte, dass man den in den Alternativen von Realismus und Konstruktivismus dachte. Wie beim Neurokonstruktivismus gezeigt, gibt es sogar häufig seltsame Kombinationen beider Positionen, wie eine realistische Begründung einer konstruktivistischen Position. Oder es gibt Versuche, eine vermittelnde Kombination beider zuzulassen, angelehnt an der kritischen Rationalismus.[6] Der Explikationismus muss daher zeigen, dass er für systemische Denker mehr bringt, also nur eine Vermittlung. Das Neue am Explikationismus ist gegenüber einem reinen Kombinationslösung: das Infragestellen und Ablösung des Singularismus, Reduktionismus und Projektionismus. Das Neue am Explikationismus ist gegenüber einem Pendeln zwischen Realismus und Konstruktivismus die eindeutige Positionierung ohne immunisierungsstrategisches Pendeln wie beim Neurokonstruktivismus.
Die Frage bleibt, in welchen Varianten sich der Realismus und Konstruktivismus an den Explikationismus annähern können. Der Konstruktivismus rückt dann in die Nähe vom Explikationismus, wenn er als sozialer Konstruktivismus verstanden wird, bei dem die Teilnehmer aus gemeinsamen Situationen schöpfen statt nur innerlich zu konstruieren.[7] Wohingegen der Realismus dann in die Nähe vom Explikationismus rückt, wenn er als lebensweltliche Realismus verstanden wird, der einseitige Reduktionen auf Dinge oder bestimmte Merkmalsklassen unterlässt. Wenn beide zudem die singularistische Annahme fallen lassen, dass es nur Einzelheiten gibt, schaffen sie die Ablösung von ursprünglich unvereinbaren Positionen und münden in den phänomenologischen Explikationismus. Mit dem Explikationismus ist damit auch eine Synthese von zwei systemischen Positionen möglich, die sich als systemisch-konstruktivistische und systemisch-phänomenologische Ansätze häufig unvereinbar gegenüberstanden.

Konstruktivismus und Phänomenologie

Bisherige Ansätze Konstruktivismus und Phänomenologie zu verbinden, in: In: Weber, Gunthard (Hrsg.) (2001): Derselbe Wind lässt viele Drachen steigen. Carl-Auer.

  • Siegfried Essen: Die Ordnungen und die Intuition. Konstruktivismus und Phänomenologie im Einklang? S. 98-111
  • Insa Sparrer: Konstruktivistische Aspekte der Phänomenologie und phänomenologische Aspekte des Konstruktivismus. S. 68-97
  • Oliver König (2004): Familienwelten. S. 205f.

Systemische Praxis im Lichte der Phänomenologie

Waren die letzten beiden Kapitel der Versuch unternommen worden, die Begriffe der Neuen Phänomenologie einzuführen um erkenntnistheoretische und ontologische Positionen der Systemiker darin zu verorten, soll jetzt der Blick auf die systemische Praxis in Therapie und Beratung gelegt werden, um die Frage zu beantworten, wie sehr sich diese Praxis neophänomenologisch beschreiben lässt. Mit der Verbindung von Psychotherapie und Phänomenologie wird an eine Tradition erinnert, die auf eine reiche Geschichte zurückblicken kann:

Viele psychotherapeutische und psychologische Leitfiguren der 50er-, 60er - und 70er-Jahre haben den Rekurs auf die Phänomenologie genutzt, um sich gegen eine als einseitig objektivistisch empfundene Sicht auf den Menschen abzugrenzen. Genannt seien hier Carl Rogers und Alber Marrow sowie Viktor Frankl, und mit ihm die gesamte existenzialistische Tradition der Psychotherapie bis hin zu Irvin Yalom. Manche, wie Viktor Frankl interessierte mehr die Entwicklung einer therapeutischen Philosophie und Haltung, andere am deutlichsten Carl Rogers, wollten auch einen wissenschaftlich orientierten Beitrag zur Psychotherapie leisten und damit eine Alternative formulieren gegenüber der deterministischen und mechanistischen Weltsicht des damaligen Behaviorismus und gegen die pessimistische und biologistisch ausgerichtete Sicht der orthodoxen Freudianer. (OK-F 203)

Systemisch-konstruktivistischer Ansatz

Der systemisch-konstruktivistische Ansatz in der Therapie und Beratung

  • Geschlossenheit als subjektive Tatsächlichkeit?
  • Hypnosystemik als Anwalt der unwillkürlichen Phänomene

Zitate aus systemische Haltung:

  • Denn aus systemisch-konstruktivistischer Sicht kann es die eine Sichtweise, die eine Wahrheit nicht geben. Und der systemische Ansatz ist auch offen für andere theoretische Ansätze, für die Verbindung mit anderen Schulen.
  • Wichtig ist zu erkennen, dass Menschen oft weniger am konkreten Verhalten, sondern vor allem an ihren Konstruktionen (»Trauer«, »Lebhaftigkeit« etc.) leiden.
  • Ziel des Beraters ist es, Eigenschaftsverdinglichungen zu verflüssigen,
  • Technik des Verflüssigens.
  • nichtsprachliche Sinneserfahrungen des Menschen
  • Systemische Beratung ist nie eine direkte Einflussnahme, sondern das Steuern über Kontexte, das Zur-Verfügung-Stellen eines für das Klientensystem möglichst anregungsreichen »Rahmens«.
  • Somit kann die »Täterschaft« für mein Gefühl letztlich nicht einem anderen zugeschrieben werden.
  • Die lösungsorientierten Techniken können nur funktionieren, wenn der Klient das Gefühl hat, seinem Problem wurde ausreichend Raum gegeben,
  • Danach stellen Symptome gleichsam verzauberte Ressourcen und Probleme einseitig betrachtete Wirklichkeiten oder ungünstige Verhaltensweisen in einem bestimmten Kontext dar.
  • nicht in die Problemtrance des Klienten zu versinken, sondern permanent auch die Möglichkeit zu haben, eine ressourcenorientierte Betrachtung in die Beratung einzuführen.
  • In der systemischen Beratung werden Probleme/Symptome als Verhalten in einem Kontext betrachtet.
  • Joining basiert auf der empathischen Kompetenz des Beraters,
  • eine Lösungssituation, die gleichsam als »positiver Magnet« für den Entwicklungsweg des Klienten wirken kann.
  • Überweisungskontext
  • welchen Unterschied es macht, ob ich als Berater eine »Umdeutungstechnik« anwende oder aber mit der »Umdeutungshaltung« arbeite.
  • Das, was bisher »über ihn kam«, wozu er keine Ich-Steuerung empfunden hatte, führt er nun aktiv herbei
  • alles ist mit allem verbunden. Die Veränderung an einer Stelle bewirkt aufgrund der Vernetzung Veränderung an anderer Stelle

Systemisch-phänomenologischer Ansatz

Systemisch-phänomenologische Haltungen

  • (vorsprachliche) Beziehung: guter Draht zum Kienten
  • (vorsprachliche) Haltung: ressourcenorientierte Haltung, selbst wenn verbal provokativ

Vergleich

  • systemisch: systemisch-konstruktivistisch & systemisch-phänomenologische Therapie
  • phänomenologisch: Neue Phänomenologie
bisher systemisch phänomenologisch systemisch-phänomenologisch
Kompetenz eher auf Pathologie fokussiert jemand zeigt sich irgendwie (als Kompetenz) jemand ist so (als Typ) (eher pathologisch) als kompetent bezeichnetes Verhalten, dass jemand in einer Situation zeigt
Utilisierung Symptom wird abgewertet Symptom wird aufgewertet Symptom wird aufgewertet Symptom wird aufgewertet
Unwillkürlich / Willentlich - / + +- / + + / - +- / +-
Bedürfnisse Todes- und Sexual-Trieb etc. starke Betonung auf systemischer Bezogenheit keine Bedürfnisse thematisiert, aber gegen den Sozialapriorismus Bezogene Individuation & Entwicklung
Wirkung Fokus auf Sachthemen: richtig/falsch Fokus auf Auswirkungen kein Fokus auf Auswirkungen, lediglich beschreibend Fokus auf Auswirkungen
(Nicht-)Wissen Wissende Therapeut der nicht-wissende Therapeut der wissende Therapeut (als Gefahr) der anbietende Therapeut
(Nicht-)Verstehen Ich verstehe dich Ich kann dich nicht verstehen Ich kann dich verstehen (?) Ich kann dich verstehen
Eingebundenheit eher auf Autonomie fokussiert Bezogenheit spielt große Rolle (obwohl wir operativ geschlossen sind) wir leben in und aus Situationen wir leben in und aus Situationen
Vertrauen Vertrauen ist nicht nötig Vertrauen wichtig als Beziehung Vertrauen nicht entscheidend, da Phänomen an-sich wichtiger Vertrauen ist wichtig als Atmosphäre
Humor Kein Humor mehr Humor etwas Humor viel Humor
therapeutische Raum keine Rolle Raum als Beziehung Raum als Weite- + Richtungsraum Raum als Atmosphäre wo Verortung möglich ist
Anerkennen was ist Etwas ist einfach so Möglichst Reframen Anerkennen was ist Anerkennen was ist, mit Selbstakzeptanz
Innen / Außen Innen und Außen getrennt Innen und Außen getrennt Innen und Außen nicht getrennt Innen und Außen teilweise getrennt
Aktiv / Passiv Fokus auf passiven Erleiden von Krankheit & Therapie Konstruktion ist aktiv Phänomen ist ergreifend (eher pathisch) Mediale Handlungsformen: In Resonanz gehen

Kompetenzorientierung / Utilisierung

Neu: jemand handelt irgendwie, aus einer Situation heraus, in der es sich befindet

Bedürfnisse

Systemisches Denken fokussiert stark auf die Eingebundenheit der Menschen im Kontext.

(Aus-)Wirkung

  • Nicht das Phänomen an sich, sondern die Wirkung des Phänomens bestimmt die Wirkung
  • mit Einschränkung zu nackten Tatsachen wie eine Gewehrkugel

(Nicht-)Wissen

  • Buddhismus, japanische Philosophie
  • Nicht-Wissen des konstruktivistischen Therapeuten
  • Nicht-Wissen in Aufstellungen

(Nicht-)Verstehen

Eingebundenheit

Vertrauen

  • Zeugenschaft

Humor

Therapeutischer Raum

Anerkennen, was ist

  • Zeugenschaft
  • Nackte Tatsachen

Innen / Außen

Aktiv, Passiv

  • Jenseits von aktivem Tun und passivem Erleiden
  • Es ereignet sich von selbst
  • Kunst des Bogenschießens

Fazit

Glossar

  • Introjektionismus: Die Vorstellung, das alles qualitative Sinnesqualitäten Introjektionen, also innenweltliche Konstrukte, sind. (Avenarius)
  • Projektionismus: These, die alles Bedeutungshafte der Außenwelt auf nachträgliche Zuschreibung aus Innenwelten zurückführt. (Wilhelm von Ockham, Nietzsche)
  • Singularismus: Die ontologische Vorstellung, das alles was ist, einzeln ist. Die Welt bestünde aus lauter Einzelheiten, die man zwar in Beziehung setzen kann, aber die einzelnen Dinge wären auch ohne Beziehung zueinander vorhanden. Diese These wird vorallem von einer Ding- und Prozessontologie vertreten. (Thomas von Aquin, Wilhelm von Ockham, Kant)

Fußnoten

  1. Luhmann 1992a, 140; Luhmann 1994a, 478: „Die Weiche wird mit der Annahme eines operationsbasierten Ansatzes der Systemtheorie gestellt.”
    Luhmann 1997d, 901: „Aus der Sicht einer operativen Systemtheorie, wie sie hier vertreten wird, ...”
  2. Luhmann 1997c, 171
    Sowie weitere Belege: "Mit dem Wort Beziehung hab’ ich einen Terminus, der systemtheoretisch ganz blaß ist."[Luhmann 1997c, 172]
    "Es gibt daher auch keine Sondersphäre des ‚Dazwischen’, der Relation oder des‚Inter...’ – [...]."[Luhmann 1990a, 24]
    "Der Beziehungsbegriff bildet oft den Ausweg aus einem schon verkorksten Theorieanfang. Der Begriff hat nach alter Auffassung etwas ontologisch Minderwertiges (und doch Ontologieabhängiges) an sich, da er Substanzen (hier eben: Menschen) voraussetzt, die nicht in den Beziehungen aufgehen und auch nicht durch die Beziehungen definiert sind, die 'zwischen' ihnen bestehen." [Luhmann 1988a, 76 (Fußnote 2].
  3. "Wissen heißt fähig sein, in einer individuellen oder sozialen Situation adäquat zu operieren." Humberto B. Maturana: Erkennen. Die Organisation und Verkörperung von Wirklichkeit, Braunschweig 1985. S. 76. Maturana gilt als Stifterfigur des Radikalen Konstruktivismus.
  4. Die angemessene Metapher zur Versinnlichung der Erkenntnis ist von diesem Standpunkt aus nicht mehr die Reise, sondern die Ernte; die Situation ist der Acker, die durch Explikation für das Wissen abfallende Tatsache die Frucht und das personale, erkennende Subjekt der Bauer, der auf diesem Acker zu Hause (glebae adscriptus) ist. [S-NGE 219f]
  5. [H-SuZ 61]
  6. Unger, Fritz (2005): Kritik des Konstruktivismus. Heidelberg.
  7. "Dem sozialen Konstruktivismus entspricht in meiner Terminologie der erkenntnistheoretische Explikationismus" (Hermann Schmitz: Replik Phänomenolgie als Anwalt der unwillkürlichen Lebenserfahrung, Pos 200)