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Für Prozessontologien stehen Prozesse im Vordergrund, die aus verketteten Ereignissen bestehen. Man spricht daher auch von Ereignisontologien, welche statt einzelne Dinge auf den Fluss von Ereignisse fokussieren. Im Unterschied zu Dingontologien gibt es keine feststehenden Dinge mit Eigenschaften mehr, sondern nur noch kurzzeitige Ereignisse, die durch Anschluss einem Prozess formen. In der strengen Form spricht von einer "aktualistischen Ereignisontologie" (Singer), in der es nur einzelne Ereignisse gibt. In der weiteren Form spricht man auch von Relationen zwischen den Ereignissen, wenn es zu einem Anschluss der Ereignisse kommt.<br>
 
Für Prozessontologien stehen Prozesse im Vordergrund, die aus verketteten Ereignissen bestehen. Man spricht daher auch von Ereignisontologien, welche statt einzelne Dinge auf den Fluss von Ereignisse fokussieren. Im Unterschied zu Dingontologien gibt es keine feststehenden Dinge mit Eigenschaften mehr, sondern nur noch kurzzeitige Ereignisse, die durch Anschluss einem Prozess formen. In der strengen Form spricht von einer "aktualistischen Ereignisontologie" (Singer), in der es nur einzelne Ereignisse gibt. In der weiteren Form spricht man auch von Relationen zwischen den Ereignissen, wenn es zu einem Anschluss der Ereignisse kommt.<br>
 
Die europäischen Prozessontologien sind häufig motiviert, eine Alternative zu Dingontologien zu schaffen und mehr Dynamik hineinzubringen. Man könnte auch von einem Wechsel des Aggregatzustandes von fest zu flüssig sprechen, der den Wechsel von Ding- zu Prozessontologien gut beschreibt. Nicht das feststehende ergreifbare Ding, sondern das durch die Hände rinnende Wasser wird zum ontologischen Leitbild erhoben.<br>
 
Die europäischen Prozessontologien sind häufig motiviert, eine Alternative zu Dingontologien zu schaffen und mehr Dynamik hineinzubringen. Man könnte auch von einem Wechsel des Aggregatzustandes von fest zu flüssig sprechen, der den Wechsel von Ding- zu Prozessontologien gut beschreibt. Nicht das feststehende ergreifbare Ding, sondern das durch die Hände rinnende Wasser wird zum ontologischen Leitbild erhoben.<br>
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Als Begründer der Prozessontologie in der europäischen Philosophie wird häufig Heraklit mit seinem Zitat "panta rhei"  („Alles fließt“) benannt, aber eindeutig erst bekennt sich Wilhelm von Ockham (1288-1347) mit seinem Relationsverzicht zu einer strengen Prozess- und Ereignisontologie. Ihm folgen zahlreiche Denker wie: Avenarius, Hume, Fichte, Bergson, Whitehead, Mach, Wittgenstein, Cassirer. In der Systemtheorie ist Luhmann eindeutig Bekenner der Prozessontologie, wenn er – aus einer Ablehnung der Dingontologie heraus – die Verkettung von Operationen als Ereignisse zum Kern seines Systemmodells macht.
  
 
=== Situationsontologie ===
 
=== Situationsontologie ===

Version vom 17. September 2017, 22:02 Uhr

Einführung

Das Projekt Systemische Phänomenologie hat folgenden Focus:

  • Neue Phänomenologie für systemische Therapeuten und Coaches
  • Klärung des Verhältnisses von Neuer Phänomenologie und Systemtheorie
  • Brückenschlag zwischen Phänomenologie und Konstruktivismus, und damit zwischen dem Selbstverständnis systemisch-konstruktivistischer

Ontologie

In der Ontologie geht es um die Frage, was ist. Dazu gibt es drei typische Antworten, die wie folgt unterschieden werden können:

Dingontologie Prozessontologie Situationsontologie
Aussage Es gibt einzelne festkörperliche Dinge, der verbunden sein können. Es gibt Prozesse, in denen Operationen verkettet sind. Es gibt Situationen, in denen sich Lebewesen befinden.
Vertreter Aristoteles, Leibniz, Kant Mach, Whitehead, Wittgenstein Hegel, Dilthey, Heidegger


Dingontologie

Dingontologien (auch: Substanzontologien) gehen davon aus, dass die Welt aus

  1. lauter Dingen in Form von Festkörpern besteht,
  2. die Eigenschaften haben
  3. und in Beziehung zu einander stehen können.

Der Fokus der Dingontologie liegt also auf den Dingen, erst dann kommen die Eigenschaften und die geringste Bedeutung haben traditionell die Relationen. Im Kontakt mit Menschen würde man also zunächst fragen, wer jemand ist, dann wie er ist, und zuletzt, mit wem er in Beziehung steht.
Das ontologische Leitbild ist der einzelne feste Körper im zentralen Gesichtsfeld und nichts Flüssiges oder Gasförmiges, in dem man sich befindet. Dieser Festkörperglauben dominiert gewöhnlich unser Alltagshandeln und -denken, wenn wir nach Dingen greifen oder Nahrung zu uns nehmen. So gesehen kann diese Dingontologie auch evolutionäre Vorteile haben, z.B. wenn man auf Nahrungssuche geht und unsere Aufmerksamkeit sich auf ergreifbare Dinge richtet. Auch lässt sich mit einem dingontologischen Zugang leicht eine intersubjektive Einigung erzielen, wenn man fragt, wie viele Dinge sich wo befinden und welche abzählbare Merkmale sie haben.
Dingontologien stehen indoeuropäischen Sprache sehr nahe, da wir es gewöhnt mit vielen Nomen zu sprechen, die auch im Satz häufig als Subjekt unerlässlich sind und durch Attribute beschrieben werden. Auch sind "Was ist ...?"-Fragen in der Wissenschaft sehr beliebt, die dann über eine Aufzählung von Attributen und Relationen beantwortet werden und von Studenten häufig auswendig gelernt werden müssen.
Geschichtlich dominiert das dingontologische Denken fast die gesamte europäische Philosopiegeschichte seit Demokrit (460-380 v.Chr.), und wird von vielen bekannten Philosophen wie Platon, Aristoteles, Leibniz, Locke, Kant und Husserl häufig unhinterfragt übernommen.

Prozessontologie

Für Prozessontologien stehen Prozesse im Vordergrund, die aus verketteten Ereignissen bestehen. Man spricht daher auch von Ereignisontologien, welche statt einzelne Dinge auf den Fluss von Ereignisse fokussieren. Im Unterschied zu Dingontologien gibt es keine feststehenden Dinge mit Eigenschaften mehr, sondern nur noch kurzzeitige Ereignisse, die durch Anschluss einem Prozess formen. In der strengen Form spricht von einer "aktualistischen Ereignisontologie" (Singer), in der es nur einzelne Ereignisse gibt. In der weiteren Form spricht man auch von Relationen zwischen den Ereignissen, wenn es zu einem Anschluss der Ereignisse kommt.
Die europäischen Prozessontologien sind häufig motiviert, eine Alternative zu Dingontologien zu schaffen und mehr Dynamik hineinzubringen. Man könnte auch von einem Wechsel des Aggregatzustandes von fest zu flüssig sprechen, der den Wechsel von Ding- zu Prozessontologien gut beschreibt. Nicht das feststehende ergreifbare Ding, sondern das durch die Hände rinnende Wasser wird zum ontologischen Leitbild erhoben.
Als Begründer der Prozessontologie in der europäischen Philosophie wird häufig Heraklit mit seinem Zitat "panta rhei" („Alles fließt“) benannt, aber eindeutig erst bekennt sich Wilhelm von Ockham (1288-1347) mit seinem Relationsverzicht zu einer strengen Prozess- und Ereignisontologie. Ihm folgen zahlreiche Denker wie: Avenarius, Hume, Fichte, Bergson, Whitehead, Mach, Wittgenstein, Cassirer. In der Systemtheorie ist Luhmann eindeutig Bekenner der Prozessontologie, wenn er – aus einer Ablehnung der Dingontologie heraus – die Verkettung von Operationen als Ereignisse zum Kern seines Systemmodells macht.

Situationsontologie

Die Situationsontologie geht davon aus, dass die Welt aus lauter Situationen besteht, d.h. aus chaotisch-mannigfaltigen Ganzheiten in denen es nicht nur Einzelheiten gibt sondern auch Ganzheitliches. Wenn wir Situationen als grundlegend annehmen, dann sind wir als Lebewesen ebenso darin eingebettet wie die Tiere. Der Unterschied besteht nur darin, dass Menschen dazu verdammt sind, sich auch aus Situationen zu erheben und Konstellationen mit Einzelheiten daraus zu explizieren.

Erkenntnistheorie

Die erkenntnistheoretische Position des systemischen Phänomenologie grenzt sich auf der einen Seite ab gegen einen dingontologischen Realismus der Sachen und auf der anderen Seite gegen einem prozessontologischen Konstruktivismus.

Realismus Konstruktivismus

(als konstruktiven Idealismus)

Explikationismus
Thomas von Aquin, Kant, Schelling Kant, Schopenhauer, Fichte Hegel, Dilthey, Heidegger
Realismus: nur nackte Tatsachen Absoluter Relativismus (in Beliebigkeit, wenn nicht sozial normiert) Moderater Relativismus (Anerkennung nackter Tatsachen in faktischer Betroffenheit)
Metapher Besuch: Es gibt vorgegebene Dinge, denen wir prinzipiell einen Besuch abstatten können. Besuch: Ersatzbefriedigung, da wir den Dingen keinen Besuch abstatten können. Ernte: Wir leben auf Feldern und ernten Früchte.
Spruch Erkenntnis ist das Erkennen des Ding-an-sichs. Erkenntnis wird aus einzelnen Sinneseindrücken synthetisiert und konstruiert. Erkenntnis ist eine Seinsart des In-der-Welt-seins. (Heidegger: SuZ 61)
Vorrangige Ontologie Dingontologie Prozessontologie Situationsontologie

Realismus

Der erkenntnistheoretische Realismus verfolgt das Reise- und Besuchsmodell der Erkenntnis. Erkenntnis kommt demnach wie ein Beutefang auf einer Jagd zustande: der Mensch verlässt die Höhle um auf Beutefang zu gehen und findet in der Außenwelt Kenntnisse über Objekte, die er gleichsam im Rucksack mit nach Hause in die Höhle trägt. Erkennen ist das Ergreifen von festen Dingen und Sachen ("res", die Sachen), die man bei einem Besuch außerhalb des eigenen Wohnortes findet. Die Höhle als eigener Wohnort ist jedoch dunkel und es lassen sich darin keine Sachen erkennen.

Die strenge Variante des Realismus besagt, dass die Dinge als solche erkannt werden können. Häufiger ist die Variante das man davon ausgeht, dass man durch den (aktiven oder passiven) Besuch an den Sachen beschreibende Züge abgelesen und festgestellt werden können (Erkenntnistheoretischer Deskriptivismus). Die Naturwissenschaften gehen methodisch so vor, dass sie nach realistischen Beschreibungen suchen um daraus die Zukunft zu prognostizieren oder gar mit technischem Handwerk zu gestalten. Jedoch kann von einer erfolgreichen Prognose oder einer erfolgreichem Gestaltungsexperiment nicht notwendigerweise auf die Korrektheit der realistischen Beschreibung geschlossen oder gar der Realismus als erkenntnistheoretische Postionen bewiesen werden.

Konstruktivismus

Der Konstruktivismus beschreibt, wie Erkenntnis möglich ist, wenn das Tier die Höhle nicht verlassen kann. Als Ersatzbefriedigung wandert es in der Höhle herum und sucht dort nach einzelnen Dingen aus denen es etwas bauen kann. Das Konstruierte ist dann stets die Neukombination von Einzelnem, das nur von Innen kommen kann. Von Außen könnte maximal die Aufforderung kommen, etwas neues zu suchen und daraus etwas zu bauen. Die gehörte Aufforderung wäre jedoch selbst eine Konstruktion.

Der Konstruktivismus tritt in verschiedenen Formen auf, und hat deutliche Überschneidungen mit dem erkenntnistheoretischen Realismus und Explikationismus:

  • Der Radikale Konstruktivismus ist eine Extremposition und leugnet die Erkenntnis einer unabhängigen Realität. Da alle Erkenntnis als Konstruktion angesehen wird, kann es daher auch kein Erkenntnissubjekt als sich erlebenden Konstrukteur mehr geben. Als Extremposition ist diese Position nur im Rahmen einer konsequenten Prozessontologie denkbar, in der es nur nur Operationen als objektive Sachverhalte gibt.[1]
  • Der Neurokonstruktivismus (z.B. G. Roth) beruft sich auf die naturwissenschaftliche Hirnforschung, und geht damit eine Koalitation mit dem reduktionistischen Realismus ein. Er kombiniert damit auf seltsame Weise den konstruktivistischen Antirealismus gegenüber der Welt mit dem Realismus der (Neuro-)Naturwissenschaft und widerspricht sich damit letztlich selbst. Von den meisten systemischen Praktikern wird dieser Widerspruch zwischen Konstruktivismus und neurowissenschaftlichem Realismus gar nicht als solcher erkannt oder letztlich fahrlässig in Kauf genommen, da man sich von einer in Mode gekommenen neurowissenschaftlichen Argumentation Legitimations- und Marktvorteile verspricht. Im Therapiekontext scheint es legitim, die Neurowissenschaft im Interesse eines besseren Compliance zu utilisieren, aber als wissenschaftstheoretische Position ist diese Kombination nicht haltbar.
  • Der sozialer Konstruktivismus (z.B. Gergen) beruft sich auf auf die sozialen Abstimmungsprozesse der Konstruktionen und rückt damit in die Nähe des Explikationismus, der ebenso von einer grundlegenden Einbettung alles Seins in Situation ohne Identität und Einzelheit ausgeht. Ein so verstandener sozialer Konstruktivismus deckt sich aber erst dann mit dem erkenntnistheoretischen Explikationismus, wenn er die zentrale singularistische Annahmen des Konstruktivismus fallen lässt, dass die Welt aus lauter Einzelnem besteht.

Explikationismus

So unterschiedlich Realismus und Konstruktivismus sind, so einig sind sie sich darin, dass Einzelnes existiert, entweder innerhalb oder außerhalb der Höhle. Auf die Idee, dass es Einzelnes überhaupt nicht gibt, kommen sie nicht. Der erkenntnistheoretische Explikationismus ist in diesem Sinn daher systemischer, wenn er davon ausgeht, dass Einzelnes nicht per se existiert, sondern selbst wieder eine Erkenntnis- und Explikationsleistung ist. Er geht daher davon aus, dass Menschen und alle Lebewesen primär in Situationen leben, wo es noch nichts Einzelnes gibt, sondern Einzelnes erst geerntet werden muss. Anstatt Erkenntnis als Besuch oder Reise innerhalb oder außerhalb der Höhle zu beschreiben, wird Erkenntnis als Ernte verstanden, bei der wir auf und in freien Feldern leben und zugleich dort ernten. Erkenntnis ist nicht das innerliche Kombinieren oder Sammeln von Einzelnem auf einer Reise, sondern das Ernten von Einzelnem aus und auf dem Feld auf und in dem mal lebt. Erkenntnis ist kein Suchen oder Besuch von etwas, sondern eine Seinsart des In-der-Welt-Seins.[H-SuZ 61]

Die angemessene Metapher zur Versinnlichung der Erkenntnis ist von diesem Standpunkt aus nicht mehr die Reise, sondern die Ernte; die Situation ist der Acker, die durch Explikation für das Wissen abfallende Tatsache die Frucht und das personale, erkennende Subjekt der Bauer, der auf diesem Acker zu Hause (glebae adscriptus) ist. (S-NGE 219f)

Im Explikationismus geht es nicht um Passung des Explikats mit der Situation, aus der dieses geschöpft wurde. Das traditionelle Leitbild der Adäquation oder Korrespondenz zielt an der Natur der Erkenntnis vorbei.

Haltungen

Systemische Praxis im Lichte der Phänomenologie

Systemisch-Konstruktivistische Therapie

Systemisch-phänomenologische Therapie

Hypnosystemik

PEP

Systemische Naturtherapie

Fazit

Glossar

  • Singularismus: Die ontologische Vorstellung, das alles was ist, einzeln ist. Die Welt bestünde aus lauter Einzelheiten, die man zwar in Beziehung setzen kann, aber die einzelnen Dinge wären auch ohne Beziehung zueinander vorhanden. Diese These wird vorallem von einer Ding- und Prozessontologie vertreten. Wichtige Vertreter: Thomas von Aquin, Wilhelm von Ockham, Kant.

Fußnoten

  1. "Wissen heißt fähig sein, in einer individuellen oder sozialen Situation adäquat zu operieren." Humberto B. Maturana: Erkennen. Die Organisation und Verkörperung von Wirklichkeit, Braunschweig 1985. S. 76. Maturana gilt als Stifterfigur des Radikalen Konstruktivismus.