Topische Bipolarität

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leben einzeln und frei, wie ein baum, und brüderlich, wie ein wald, das ist unsere sehnsucht. (NAZIM HIKMET)

Die soziale Bipolarität besteht aus der Polarität von

  • Nähe und Bindung: das Bedürfnis nach Verbundenheit (Bindungsbedürfnis, repräsentiert durch das sogenannte "Bindungssystem" im Gehirn)
  • Autonomie und Freiheit: das Bedürfnis nach Wachstum und Potenzialentfaltung (Autonomiebedürfnis, repräsentiert durch das sogenannte "Neugiersystem" im Gehirn)

(Vgl. Stavros Mentzos: Psychische Polarität als Autonomie-Abhängigkeits-Polarität)

Die soziale Bipolarität von Abhängigkeit und Autonomie ist einer der acht Grundkonflikte, der Operationalisierten Psychodynamischen Diagnostik (OPD) (http://de.wikipedia.org/wiki/Grundkonflikt)

Gegenüberstellung

Autonomie und Freiheit Nähe und Bindung
Einzeln und frei wie ein Baum brüderlich wie ein Wald
Selbstbezogenheit Objektbezogenheit
Autonome Selbstidentität:

"Ich bin, weil ich bin."

Symbiotische Abhängigkeit:

"Ich bin, weil meine Mami mit mir ist."

Wertigkeit Autonome Selbstwertigkeit:

"Ich mag mich, weil ich bin."

Heteronome (objektbezogene) Selbstwertigkeit:

"Ich mag mich, weil meine Mami mich mag"

Bestimmung Autonome Selbstbestimmung:

"Ich mache es, weil ich es will."

Heteronome (objektbezogene) Fremdbestimmung (u.a. via Über-Ich):

"Ich mache es, weil Mami es so will"

Bedürfnis nach Wachstum und Potenzialentfaltung (Autonomiebedürfnis) nach Verbundenheit (Bindungsbedürfnis)
System Neugiersystem Bindungssystem
Gesunder Kontakt zum eigenen Selbst zur fremden Person (und nicht zu Amputationswunden)
Kraft Aggression als Schutz des Selbst Liebe als Nähebedürfnis
Tier Hofhund, dessen Aufgabe es ist, den Hof zu bewachen, bellen und bei Angriff auch zu beißen Schmusekatze

Scheinbarer Gegensatz

Es entsteht häufig der Eindruck, dass sich diese polaren Bedürfnisse gegenseitig ausschließen, so als könnte man Nähe nur um den Preis des "Verrat am Selbst" genießen bzw. seine Freiheit nur mit dem Verlust von Nähe und Zugehörigkeit erkaufen. Dieses scheinbare "Dilemma" ist verantwortlich für dei vielen Variationen von Verwirrung, Leid und Destruktivität. Diese können als - wenn auch bizarre Lösungsversuche verstanden werden. (Vgl.: Langlotz, PdS 2010/2 75)

Auch in der klinischen und psychotherapeutischen Psychologie wird der Gegensatz zumeist nicht dialektisch aufgehoben, sondern bleibt als Gegensatz bestehen und wird durch einseitige, pathologische Polarisierung oder durch einen pathologischen Kompromiss einer Pseudolösung zugeführt.

Verbindung der Pole

  • M. Mahler (1979, zitiert in Mertens & Waldvogel (2000), S340f)

Symbiose

Siehe unter: Symbiose

Historie der psychischen Polaritäten

Die Autonomie-Abhängigkeits-Polarität war bei Freud noch kein Thema. Die psychoanalytische Theorie baut zwar auf der inneren Konflikthaftigkeit des Menschen auf, Freud betonte allerdings andere Konflikte, wie z.B. zwischen Aggression und Libido. Bis in die Mitte des letzten Jahrhunderts spielte Autonomie – Abhängigkeit nur peripher oder unter einem anderen Verständnis eine Rolle. So wie Autonomie-Abhängigkeit noch heute aufgefasst wird, bedurfte es zuerst einer Loslösung vom triebtheoretischen Kontext und auf der Seite der Autonomie den Arbeiten von Vertretern der Objektbeziehungstheorie zur Abhängigkeit. Dazu sind die Namen wie Michael Balint, Donald Winnicott oder Ronald D. Fairbairn zu nennen, die den Beziehungskontext den Triebimpulsen überordnen. Auf Seite der Autonomie legten die Beiträge von Selbstpsychologen und von Vertretern der humanistischen Psychologie die Grundlage. Hier sind Heinz Kohut, Lotte Köhler und darauf aufbauend auch Alice Miller zu nennen, welche die Zentralität und Bedeutung von Bedürfnissen nach Selbständigkeit, Abgrenzung und Identität sichtbar machten. ()

Quelle: [1]

  • Freuds Polaritäten u.a.: Aggression - Libido
  • Loslösung vom triebtheoretischen Konzept nötig
  • Objektbeziehungstheorie: Überordnung des Beziehungskontextes vor den Triebimpulsen (Michael Balint, Donald Winnicott, Ronald D. Fairbairn)
  • Selbstpsychologie: zentrale Bedürfnisse nach Selbständigkeit, Abgrenzung und Identität (Heinz Kohut, Lotte Köhler, Alice Miller)

Zitate

Lebewesen sind darauf angelegt, sich einerseits gegenüber der andrängenden Wirklichkeit abzugrenzen und zu erhalten, andererseits sie sich einzuverleiben und sich mit ihr zu vereinen. Daraus ergibt sich ein Polarität von repulsiven (aversiven) und attraktiven Ausdrucksvalenzen. (F-LRP 199)

Eigene Lernprozesse werden ganz wesentlich durch die Spannung zwischen zwei einander widersprechenden Bedürfnissen aktiviert: dem nach Sicherheit und Geborgenheit, also nach Bindung, sowie nach dem Wachstum und damit einhergehend nach Autonomie. Neuere Ergebnisse der Hirnforschung führen zu der Hypothese, dass die Auseinandersetzung mit dieser Grundspannung und die Erschaffung von damit verbundenen Lösungen der zentrale Stimulus für die Entwicklung des kindlichen Gehirns und die Entfaltung kindlicher Kreativität sind. (Eidmann+Hüther in PraxSys1/08 58)

Die vorgeburtlich gemachte Erfahrung der Vereinbarkeit von Wachstum und Bindung wird zu einer Basismatrix, anhand deren sich auch die spätere, nachgeburtliche Reifung im Sinne eines selbstreferenziellen Entwicklungsprozesses vollzieht. (PraxSys1/08 58)

Stichworte:

  • Ursprungsspannung
  • Bipolaritätsmodell