Vom Ding zum Feld

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Vom Ding zum Feld. Was ist der „topological turn“?

von Dr. Thomas Latka

Genausowenig wie wir nicht nicht kommunizieren können, können wir gar nicht anders, als stets in bestimmten Modellen oder Schemata zu denken. Die grundlegendsten Modelle, die unser Denken bestimmen, sind von der mehr als zweitausendjährigen Geschichte in der Philosophie geprägt, auf die wir zurückblicken können. Im folgenden soll eine einfache lineare Skala vorgestellt werden, welche uns einen Überlick über die grundlegenden philosophischen Modelle bieten kann.

Ding

Häufig verhalten wir uns im Alltag so, als ob wir es überall mit Dingen zu tun haben. Mit Dingen meinen wir alles, was wir sehen und tasten können. Wir bewegen morgens unseren Körper aus dem Bett, fahren nach dem Frühstück mit der U-Bahn zu Arbeit, treffen dort unsere Kollegen, gehen gemeinsam Mittagessen, freuen uns auf den Feierabend und treffen dann abends noch ein paar Freunde, mit denen wir z.B. ins Kino gehen. Etliche Elemente dieser Beschreibung können wir als Dinge behandeln, also sowohl unseren Körper, das Bett, das Frühstück, die U-Bahn, das Mittagessen, das Kino. Denn alle diese Dinge können wir sehen und tasten. Daher sind so gesehen auch unsere Arbeitskollegen oder Freunde Dinge, denn wir können auch diese sehen und anfassen. Ein Ding ist also ewtas, das wir im Alltag wie ein Festkörper behandeln, also alle Gegenstände des täglichen Lebens und eben auch unser eigener Körper wie auch die anderer Menschen. Diese Haltung, dass wir es vorallem mit Dingen zu tun haben, war und ist sehr erfolgreich, denn nur so konnten wir mit essbaren Dingen unseren Hunger stillen und auch mit dinghaftem Material Häuser bauen, die uns Schutz vor freindlichen Dingen gaben. Der Umgang mit Dingen ist also zu einem großen Teil dem Überlebenswillen des Menschen geschuldet, und hat sich über die Jahrtausende bewährt. In unserem alltäglichen Leben bevorzugen wir daher Dinge, die wir sehen und betasten können. Daher handelt es sich in der Regel um flächige, abgrenzbare Dinge. Einer der ersten Philosophen, der dieses Dingkonzept ausformulierte war Demokrit, der die Welt als Ansammlung von mikroskopisch kleinen oder auch ungeheuer großen starren festen Körpern beschreibt. Damit wendet er sich gegen die vor ihm dominante Überzeugung, dass das einzig Stetige der dynamische Wandel ist, wie z.B. Heraklit es hervorhebt. (Vgl. Schmitz, WiNP, 338). Ihm folgt Platon, der dieses Dingkonzept übernimmt, wortreich überliefert ausbaut und generalisiert. Bei allen Gegenentwürfen und Kritiken daran, ist dieses von Demokrit und Platon formulierte Dingkonzept seit dem 5. Vorchristlichen Jahrhundert bis heute in der europäischen Intellektualkultur „common sense“. In der westlichen Philosophie ist die Kritik an diesem Festkörper-Modell der Dinge am deutlichsten bei Hermann Schmitz zu finden: „Die dominante europäische Kultur seit der Wasserscheide orientiert sich hauptsächlich an leicht identifizierbaren, selektiv variierbaren Merkmalen, die an flächig begrenzten festen Körpern abgelesen werden können.“ (Schmitz, WiNP 333) Das Ding wird in Form des Körpers auch als Gegenpool zur Psyche oder Seele angesehen, für das sich kein entsprechender Festkörper finden ließ. Man hat die Psyche daher lange in eine privaten Innenwelt abgeschoben, wo sie ohne Kontakt zu den Dingen frei gestalten kann (Psychologismus). Die Außenwelt der Dinge wurde auf wenige identifizierbare, quantifizierbare und manipulierbare Merkmale reduziert (Reduktionismus), und der übrig gebliebene Rest wieder in die Innenwelt der Seele abgelagert (Introjektionismus). Das dominanten Paradigma unserer europäischen Intellektualkultur ist daher psychologistisch, reduktionistisch und introjektionistisch. Trotz diesem dingfreien Rückzugsort der Psyche wurde immer versucht auch diese private Innenwelt zu verdinglichen. So wurde die Psyche häufig durch die Brille des Festkörpermodells gesehen, z.B. „als Haus mit Stockwerken (Geist, Vernunft, Verstand, Sinnlichkeit) und Möbeln in den Stockwerken (intentionale Akte, Ideen, Erinnerungen in einem separaten Magazin des Gedächtnisses, Triebe, Empfindungen, Gefühle).“ (Schmitz WiNP, 333f). So gab und gibt es immer neue Verdinglichungsversuche der Psyche, die sich auch durchaus erfolgreich gegen andere dinghafte Ansätze behaupten können. Zur Zeit ist es im Zuge des neurowissenschaftlichen Booms modern, die Psyche in Form des Gehirns auch als Ding zu erforschen. So betrachtet, wird man auch diesmal dort außer Dingen nichts finden. Der Sprung von dinghaften Zuständen zu einem ganzheitlichen spürbaren Leib wird auch auf diese Weise nicht zu lösen sein. Trotzdem lässt sich der dinghafte Zugang zur Welt sicher immer wieder eine neue Strategie einfallen, um uns mit dinghaften Erklärungen zu überraschen.

Menge (Menge von Dingen)

Häufig haben wir es nicht nur mit einzelnen Dingen zu tun, sondern auch mit größeren Mengen davon. D.h. im Alltag sind wir häufig vor die Aufgabe gestellt, bestimmte Dinge an ihrerer Zugehörigkeit zu bestimmten Mengen zu erkennen. So gehört für uns selbstverständlich das Auto zur Menge der Fahrzeuge, die Menschen zur Menge der Lebewesen, und die Erde zur Menge der Planeten. Mengen helfen uns Ordnung in die Vielzahl der Dinge zu bringen, da unsere Sprache bereits etliche Mengenbegriffe besitzt, um Dinge entsprechend einzuordnen. Gleiches gilt für die soziale Ordnung, wo Menschen Teil einer sozialen Gemeinschaft sind, wie zu aller erst der Familie. Philosophisch betrachtet kommt eine Menge dadurch zustanden, dass man gemeinsame Merkmale von Dingen findet oder schafft. Dadurch kommt es zur Ein- und Ausgrenzung von verschiedenen Dingen, also zu einer Innen-Außern-Grenze verschiedener Dinge. Alles was innerhalb dieser Grenze ist, wird als Teil der Menge verstanden. Alles was außerhalb ist, wird nicht zur Menge gezählt. Ob die Grenze durch bestimmte gemeinsame Merkmalstypen zustande kommt, oder aufgrund eines gemeinsamen physischen Raumes, spielt hierbei gar keine Rolle. Dieses Mengenmodell ist im sozialen Leben besonders hilfreich, wenn es darum geht, über die Mitgliedschaft von Personen zu einer soziale Gruppe zu entscheiden. Manchen Veränderungen sind nur möglich, wenn Personen mit den richtigen Merkmalen exkludiert bzw. aufgenommen werden. Das Festhalten am Mengenmodell endet häufig im Schubladendenken, also z.B. beim Einsortieren von Emails in bestimmten Ordnern, oder bei Einsortieren von Schülern in bestimmte Schulzweige, oder beim Diagnostizieren von gleichen Krankheiten bei verschiedenen Patienten. Auch wenn es häufig aus pragmatischen Gründen keine andere Wahl gibt: Der Besonderheit jedes Einzelnen wird man damit nicht gerecht, und etliches Wissen und Potential geht stets verloren.

Netz (Menge aus Dingen und Relationen)

Im Unterschied zur Menge von Dingen, ist das Netz eine Menge von Dingen und denen zwischen Ihnen existierenden Relationen, die sie verbinden. Die Einheit eines Netzes wird daher nicht primär über eine Grenzziehung zwischen den Dingen in der Menge und außerhalb der Menge hergestellt, sondern eher aus dem Umstand, dass bestimmte Dinge mit anderen in Beziehung stehen, mit anderen jedoch nicht, oder zumindest deutlich weniger. Ein derat verstandenes Netzmodell ist daher eine Menge aus zwei Elemententypen: Einzelnen Dingen und Relationen. Hilfreich ist diese Denkweise im sozialen Leben dann, wenn die Interaktionen oder Beziehungen zwischen den Teilnehmern erstmals in den Blick kommen. Es gilt z.B. ein Ausgleich von Geben und Nehmen herzustellen, und die Beziehungen damit wieder auszugleichen. Oder es geht darum, die Erkenntnis zu schärfen für die anderen Beziehungen zu schärfen, in denen man steht, sich aber nicht sieht. Wenn es sich um ein Netz aus Überzeugungen handelt, dann können leicht paradoxe Relationen entstehen. Der Glauben, sozialen Situationen letztlich als dingliche Konstellationen zu verstehen, ist auch der Husserl-Schüler Alfred Schütz zum Opfer gefallen, der davon ausgeht, dass soziale Situationen in Beiträge der Beteiligten wie von unabhängigen Variablen – gleich dem Parallelogramm der Kräfte - gleichsam auseinandergerechnet werden können. (Vgl. Schmitz WiNP, 372) Auch die indogermanischen Sprachen habe eine Tendenz, das netzhafte Denken zu fördern: „Die indogermanische Syntax verführt z.B. dazu, die Welt als ein Geflecht von Substanzen, die durch kausale Beziehungen verbunden sind, aufzufassen.“(Schmitz WiNP, 364)

Netzgestalt (Netz als übersummative Gestalt)

Eine Netzgestalt ist eine Gestalt, die als Gesamtheit wahrgenommen werden kann, ohne sie erst in ihre Bestandteile zu zerlegen. Also solche ist es z.B. der Wald, den man manchmal vor lauter Bäumen (als Menge von Dingen under Relationen) nicht sehen kann. Die Netzgestalt erkennt man häufig erst richtig, wenn man den Focus hinter die einzelnen Dinge und Relationen verlagert und so die gesamte Gestalt in seinen Umrissen erkennt. Häufig genügt es etwas, den Blick zu defocussieren, wie man es von den Kippbildern kennt, die ein dreidimensionales Bild zwischen Buch und Betrachter entstehen lassen, das zunächst vor lauter Bildrauschen gar nicht erkennbar ist. Wenn die gesamte Netzgestalt in den Blick kommt, dann fällt vielleicht auch auf, dass die Netzgestgalt nur dann komplett ist, wenn unbekannte Beziehungsteilnehmer mit aufgenommen werden. Häufig werden Veränderungen nur dadurch erzielt, wenn die gesamte Beziehungsgestalt zum Vorschein kommt und gewürdigt wird.

Topische Gestalt

Die topische Gestalt ist ähnlich wie die Netzgestalt eine Gestalt, die jedoch weder gesehen noch betastet werden kann, sondern im Raum leiblich gespürt werden kann. Die Gestalt ist deshalb topisch (von topos, dem Ort), da es einen Ort im Raum gibt, auf den sich alle Elemente der Gestalt beziehen. Dieser Ort ist selbst widerum kein Ding oder Element, sondern nur als gemeinsame Ausrichtung im Raum zu verstehen. Eine topische Gestalt ist nur dann spürbar, wenn die Personen an ihren Überzeugungen nicht sturr festhalten, sondern sie bereit sind, neue leibliche Erfahrungen zu machen und topisch zu kommunizieren. Topische Kommunikation ist eine sensible leibliche Kommunikation, in der man sich auf das Begegnende einstellt, und bereit ist, mit dem spürbaren gemeinsamen Raum zu kommunizieren und dessen Gestaltqualitäten auf sich wirken zu lassen und zu verstärken. Es handelt sich gewissermaßen um ein in den Raum gerichtete Gestalt mit gefüllten Zwischenräumen. Die Notwendigkeit zur Überwindung des Netzbegriffs und zur Auffüllung der Zwischenräume hat Schmitz besonders hervorgehoben: „Im Zeitalter globaler Digitalisierung ist diese Auffüllung der Netze besonders wichtig.“ (Schmitz WiNP, 266)

Feld (topisches Feld)

Im Unterschied zur topischen Gestalt, bei der es nur einen Schnittpunkt der räumlichen Ausrichtung gibt, erstreckt sich das Feld im ganzen Raum, der die Elemente durchdringt. Das Feld erfüllt den Raum ebenso wie die darin enhaltenen Elemente. Im Unterschied zur topischen Gestalt, erleben die Elemente an allen Punkte im Ort eine Kraft, auch wenn keine aktuale Beziehung zu anderen Elementen zu spüren ist. Im Feld ist das geortet sein also wichtiger, als das Verbunden-Sein. Dies ist möglich, da die Durchdringung auch ohne direkte Relation möglich ist. Ein anderes Wort für Feld ist „Situation“, und damit sind Situationen im Unterschied zu Netzen gemeint. In Situationen steckt häufig eine binnendiffuse Bedeutsamkeit, die sich nicht so leicht zu einer Zuspitzung von scheinbar konträren Überzeugungen eignet. Situationen lassen Paradoxien daher häufig gar nicht entstehen. Felder reduzieren Komplexität, denn sie können durch ihre binnendiffuse Bedeutsamkeit ein beliebiges Milieu von Sachen aller Art ganzheitlich zusammenhalten. Das Wort „Feld“ ist missverständlich, wenn man damit direkt ein physikalisches Feld assoziiert. Es handelt sich gerade nicht um ein physikalisches Feld, da alle physikalische Felder als objektive Tatsachen behandelt werden, das topische Feld jedoch nur im eigenleiblichen Spüren als subjektive Tatsache festgestellt werden kann. Auch wenn in modernen physikalischen Theorien ganz auf das Ding als materieller Träger verzichtet wird, und nur noch mit abstrakten (auch Feld-)Begriffen gearbeitet wird, lässt der Anspruch, durch identifizierbare, quantifizierbare und manipulierbare Merkmale objektive Tatsachen zu beschreiben, keine Annäherung an die subjektiven Tatsache eines leiblichen gespürten Feldes zu. Da in der heutigen Zeit implantierende Felder immer seltener werden, die Sehnsucht danach aber immer da ist, nutzt man in der Werbung die Fähigkeit, künstlich inkludierende Zustände herzustellen, was außer in Großveranstaltungen häufig nicht mehr möglich ist. Schmitz spricht statt von Feld von Situation, und räumt diesem Begriff den zentralen Stellenwert in seiner Philosophie ein: „Die Tragweite des Situationsbegriffs als Schlüssel für menschliches Welt- und Selbstverständnis ist gewaltig ¬– fast universell – und reicht in die Tiefe;“ (Schmitz, WiNP, 370) Über Heraklit: „Das wahrhaft Seiende … ist ein Kontinuum aus Kräften.“ (Schmitz, WiNP, 356)