Mein Gefühl

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Wir haben als Stellvertreter in Aufstellungen Gefühle, die eigenlich gar nicht unsere sind, und haben Schwierigkeiten, das jemanden zu erklären. Aber: Was bedeutet es überhaut Gefühle zu haben? Kann man Gefühle überhaupt haben, also besitzen? Oder entsteht das Gefühl einfach in uns, und wir sind es einfach? Ist mit der Differenz zwischen Haben und Sein schon alles gesagt? Gibt es noch etwas Drittes? Ich meine ja: das Darin-Sein.

Gefühle als Haben?

Wenn wir von Gefühlen reden, dann tun wir das häufig so, als hätten wir Gefühle: "ich habe Hunger", "ich habe Schmerzen", oder sogar auch komödiantisch "ich habe Rücken" etc. Wie sehr prägt die Sprache damit unser Denken? Denken wir tatsächlich, dieses Gefühl als Habgut zu besitzen? Und ist es deshalb so schwer Aufstellungen zu erklären, weil wir uns nicht vorstellen können, dass das Gefühl eines Anderen als fremder Privatbesitz in unseren eigenen Körper als Stellvertreter eindringen kann? Ist das Gefühl dann entwendet, gibt es zwei gleiche Gefühle, oder sogar drei, weil das "wissende Feld" als Medium ja auch eines benötigt? Eins, zwei oder drei?

Phänomenologische Frage

Es stellt sich daher die grundsätzliche phänomenologische Frage: Was bedeutet es, ein Gefühl zu haben, bzw. etwas zu fühlen? Hierbei geht es nicht darum, zu fragen, unter welchen Umständen welche Gefühle auftreten, oder durch was sie kausal erzeugt werden. Gerade die Quantenphysik ist ein Beispiel dafür, dass die strenge Kausalitätsvorstellung in der Naturwissenschaft schon spekulativ geworden ist, und stattdessen mit Wahrscheinlichkeiten gerechnet wird. Das von Hume gesucht Band zwischen Ursache und Wirkung wurde also nie gefunden. Es ist daher umso wichtiger von der kausale Frage zur phänomenologische Frage zu wechseln, für die wir als Mensch und Stellvertreter Experte sind, und zu fragen: Was erlebe ich, wenn ich ein Gefühl habe?

Possessorisches Gefühlsverständnis als Resultat von 2500 Jahren

In unserer westlichen Sprachwelt dominiert das possessorische Missverständnis, dass man Gefühle haben kann, also als Besitz. Das deckt sich selten mit der eigenen Erfahrung: Wenn ich hungrig bin, dann ist das kein Besitz von Hunger wie von einem Auto, sondern dann bin ich persönlich betroffen in einem Zustand des Hungrig-Seins, den ich am eigenen Leibe spüre. Würde es dann genügen, einfach anstatt von "Hunger haben" von "hungrig sein" zu sprechen? Auch das macht es nicht besser. Der Wechsel vom Haben zum Sein ist nicht ausreichend, denn beide Positionen enthalten - zumindest im philosophischen Mainstream - die Annahme, das es eine von der gemeinsamen Außenwelt abgeschlossene private Innenwelt gibt (für jeden Bewußthaber nur eine), in der Gefühle ihren Platz haben. Die Annahme einer von der gemeinsamen räumlichen Außenwelt getrennten unräumlichen Psyche ist 2500 Jahre alt, seitdem Demokrit sie ca. 450 v.Chr zum erstenmal formulierte. Seitdem wird gewöhnlich davon ausgegangen, dass Gefühle Privatsache sind, was sich in unser alltägliches Denken eingeschlichen hat. Was wenn aber nicht?

Ergreifende Ausdrücke passender?

Neben dem posessorischen Reden von Gefühlen, gibt es auch etliche Redeweisen, die davon zeugen, dass Gefühle gar keine unräumlichen Privatsachen sind, sondern räumliche Kräfte, in die ich - auch mit anderen - hineingeraten kann: "Trauer überfällt", "Wut packt einen", "Zorn steigt als Wallung auf", "Freude erfüllt", "Kummer schnürt die Kehle zu" etc. Wenn wir diese Ausdrücke nicht vorschnell als metaphorisch abtun, sondern uns ihrer Aussagekraft stellen, dann lässt sich ernsthaft fragen, ob diese Ausdrücke unserem Erleben nicht näher kommen, als jegliche naturwissenschaftlichen Konstruktions- und Projektionstheorien. Diese phänomenologische Frage kann nur jeder für sich beantworten.

Gefühle nicht als meine: Neue Phänomenologie

Ich möchte davon ausgehen, dass dem so ist, d.h. das provokative Gedankenexperiment starten, was wäre, wenn die Gefühle nicht aus mir kommen, nicht aus einem Grund meiner selbst. Ich knüpfe damit an die Tradition bis zu Empedokles an, wo dies die vorherrschende Meinung unter den Philosophen und Gelehrten war, die danach nur noch vereinzelt wie bei den Urchristen wieder aufgelegt wurde. Hermann Schmitz, als Begründer der Neuen Phänomenologie, bezeichnet die damals stattfindete Verengung des Denkens, die bis heute den Mainstream des wissenschaftlichen Forschens und Denkes prägt, mit den drei Substantiven: Psychologismus, Reduktionismus, Introjektionismus. In Kurzform: Die erlebte Erfahrungswelt wurde in eine gemeinsame Außenwelt und je eigenen psychische Innenwelt unterteilt (Psychologismus), die Außenwelt auf bestimmte identifizierbare, quantifizierbare und manipulierbare Merkmale reduziert (Reduktionismus), und der Abfall der Abschleifung in die je eigene abgeschlossene Psyche gelegt (Introjektionismus).

Gefühl und Fühlen des Gefühls

Wohin führt nun das Gedankenexperiment? Wenn die Gefühle nicht aus mir kommen, dann ist das Gefühl und das Fühlen des Gefühls voneinander zu unterscheiden. Das Gefühl ist als räumliche Atmosphäre zu verstehen, in die man fühlend hineingeraten kann. Das Gefühl hat also als Atmosphäre eine räumliche Komponente und lässt sich von der persönlichen Komponente des Fühlens unterscheiden. Das persönliche Fühlen ist je eigen, das Gefühl selbst jedoch nicht. Das Gefühl ist damit etwas scheinbar Objektives, im Unterschied zum eher subjektiven Fühlen des Gefühls, das mehr oder weniger ergreifend gefühlt werden kann. Die scheinbare Objektivität des Gefühls ist aber keine Objektivität im Sinne von Kants 'Ding an sich', sondern eher die von einer gespielten Melodie, von der es sinnlos zu fragen ist, wo sie sich befindet, wenn sie nicht erklingt.

Aufstellung als Zugang zu einem fremden Gefühl

Wenn sich Gefühl vom Fühlen des Gefühls unterscheiden lässt, dann wird es auch verständlicher, wieso in einer Aufstellung jeder beliebige Stellvertreter (Zugang zur eigenen Körperwahrnehmung vorausgesetzt) ein Gefühl fühlen kann, auch wenn es gar nicht sein eigenes ist. Das ist deshalb möglich, weil das Gefühl keinem gehört, weder dem Stellvertreter noch der zu vertretenden Person. Es muss nur dafür gesorgt werden, dass es gefühlt werden kann. Und das ist scheinbar einfacher wie gedacht. Vielleicht hängt es am Denken.

Es gibt nur ein Gefühl als Darin-Sein

Die ursprüngliche Frage, ob es zur Erklärung der Stellvertretergefühls ein, zwei oder drei Gefühle braucht lässt sich damit wie folgt beantworten: Es gibt nur ein Gefühl, aber es können Mehrere fühlen, da es in keinem Privatbesitz ist. Quasi analog zum Car-Sharing ist auch ein Gefühl-Sharing möglich. Zwar behält jeder seine Individualität durch sein je eigenes Fühlen in der je eigenen Situation, aber in Aufstellungen können Stellvertreter und Originalperson Zugang zum gleichen Gefühl finden, in dessen Atmosphäre der Stellvertreter durch Benennung oder Aufstellung hineintreten kann. Ein Gefühl ist also kein Privatbesitz (Haben) oder Privatprozess (Sein) einer von der dimensionalen Außenwelt abgehobenen unräumlichen Innenwelt, sondern Etwas von dem man atmosphärisch ergriffen werden kann, und etwas, in das man räumlich hineintreten kann (Darin-Sein). Gefühle sind also nicht im Modus von Haben oder Sein, sondern im Modus des Darin-Seins zu denken.

Normale Erfahrung des Darin-Seins in Atmosphären

Wenn ein Gefühl von zwei Menschen geteilt wird, dann sind diese verbunden. Es ist insbesondere bei gefühlsbeladenen Atmosphären wie der Trauer oder der Freude völlig einsichtig, dass ein uns dasselbe Gefühl auch von mehreren weit entfernten Personen gleichzeitig gefühlt werden kann. Wer hat sich nicht schon mal mit jemandem anderem am Telefon gefreut oder mitgeweint und so die Stimmung geteilt? Gerade auch in Situationen, wo wir eine gefühlsbeladene Atmosphäre nicht teilen können, weil wir von einem anderen Gefühl ergriffen sind (z.B. als Trauernder in einer fröhlichen Runde, oder als Freudiger in einer Trauergesellschaft), ist der quasi objektive Anspruch einer Atmosphäre unabhängig von unserer Einbildung erfahrbar.

Instantane Veränderungen durch das Darin-Sein im selben Gefühl

Wenn sich also ein Stellvertreter und eine Originalperson die gleiche gefühlsbeladende Atmosphäre teilen, dann ist es auch verständlich wieso es zu instantanen Veränderungen bei der Originalperson kommen kann, sobald sich in der Aufstellung z.B. durch Stellungswechsel das Gefühl des Stellvertreters ändert. Es handelt sich also nicht nur um einen einseitigen Wahrnehmungsprozess von einem fremden Gefühl und auch nicht um einen wechselseitigen Informationsaustausch zwischen der Innenwelt des Stellvertreters und der Innenwelt der Originalperson, sondern um Wirkungen direkt auf das atmosphärische Gefühl, in dem sich Stellvertreter und Originalperson befinden, wenn auch mit ihrer je eigenen Art des Fühlens.

Alles hat ein Gefühl

Da es ja auch Aufstellungen gibt, wo nicht nur Personen sondern auch Begriffe, Prozesse oder Ideen aufgestellt werden, stellt sich die Frage, ob all diese Elemente auch eine Gefühlskomponente haben, denn nur dann ist diese ja von Stellvertretern spürbar. Wäre es also denkbar, dass alles eine Gefühlskomponente hat? Genau in diese Richtung geht auch die moderne amerikanische analytische Philosophie mit seiner These des "Panpsychismus", in der davon ausgegangen wird, dass alles "mentale Eigenschaften" hat. Und wenn man die aktuelle Extended-Mind-These der Neuro-Philosophen weiterdenkt, dann hat also alles im Raum ausstrahlende mentale Eigenschaften, und kann sich daher auch als eine räumlich gefühlte Atmosphäre präsentieren. Damit wäre man auch in weiten Kreisen der Neurowissenschaft wieder anschlussfähig.

Das Fehlen eines Stellvertreters ist spürbar

Wenn also auch ungewohnte Gefühle gefühlt werden können, dann wäre es plausibel, wieso ein Aufsteller oder auch die Stellvertreter selber spüren können, wenn in der Aufstellung noch etwas fehlt: nämlich ein Stellvertreter für ein bereits wahrnehmbares Gefühl. Atmosphärische Gefühle sind also auch ohne Stellvertreter prinzipiell wahrnehmbar. Wählt man einen Stellvertreter für das wahrgenommene Gefühl aus, dann fühlt sich das Bild jedoch kompletter an, da es auch leiblich zum Ausdruck gekommen ist.

Provokation der These, in fremde Gefühle einzutreten

Die Provokation der These, dass man in "fremde" Gefühle hineintreten kann, ist natürlich für das gegenwärtige Weltbild enorm. Vorallem weil man auf 2500 Jahre Geschichte und Begriffsbildung zurückblicken kann, in der die Trennung zwischen einer gemeinsamen dinghaften Außenwelt und einer je privaten Innenwelt konsequent verfolgt wurde. Diese zentrale Unterscheidung war vorallem hilfreich, um sich auf die reduzierten und abgeschliffenen Merkmale der Außenwelt zu stützen, mit denen strenge experimentelle Forschungen mit messbaren Ergebnissen erst möglich wurden. Gerade deshalb hat sich das Wissen auf dieser reduzierten Abstraktionsbasis auch für vieles bewährt und uns etliche praktische Anwendungen wie auch in der Technik und Medizin gebracht. Die Fortschritte der Naturwissenschaft und der davon abhängigen Technik wären ohne diese zentrale Unterscheidung und Reduzierung auf bestimmte Merkmalstypen nicht möglich gewesen, insofern war sie sehr erfolgreich. Doch sie bleibt nicht die einzig mögliche.

Darin-Sein als ursprüngliche Welterfahrung: Nishida, Heidegger und Schmitz

Wäre anstelle der immer wiederkehrenden Unterscheidung zwischen gemeinsamer Außenwelt und privater Innenwelt, Stoff und Form, Körper und Geist, Haben und Sein konsequent über das Darin-Sein nachgedacht worden, dann gäbe es ein anderes Bild, wie z.B. in der japanischen Philosophie von Nishida Kitaro, der sich dieser Aufgabe gewidmet hat. Dann ist die ursprünglichste Erfahrung, die des Hineingeratens bzw. des Hineingestelltseins - auch ohne Aufstellungserfahrung. Die erste Unterscheidung ist dann die zwischen dem Menschen und der Atmosphäre, in der er sich immer schon befindet, wohlwissend, dass das Darin-Sein bildgebend ist, und nicht das je eigene selbstgenügsame Sein. Dann ist es auch verständlich, wieso von einem Gefühl ausgegangen werden kann, in dem man sich befindet, und nicht als etwas, das man als Besitz hat: Nicht "ich habe Hunger" oder "ich bin hungrig", sondern "Im-Hunger-sein" wäre der passende Ausdruck, der unserer westlichen Sprache aber sehr schwer fällt, welche eher subjekt- statt prädikatlogisch aufgebaut sind. Hier kann man mit Heideggers "In-Der-Welt-Sein" anknüpfen, das er - in seinem ganz eigenen Jargon - als grundlegende Existenzialie der Welt beschreibt, und natürlich mit der Neuen Phänomenologie von Hermann Schmitz, dessen Verdienst es ist, den Gedanken des Sich-Befindens in Situationen systematisch ausgebaut zu haben.

Darin-Sein auch in Aufstellungen völlig normal

Wenn man an diese Traditionen des Darin-Seins anküpfend das Gefühl als Atmosphäre versteht, in der sich der Mensch befindet, dann ist einsichtig, dass der Mensch und auch jedes Lebewesen grundsätzlich gar nicht anders kann, als in eine Atmosphäre zu geraten. Das Einsteigen in eine Stellvertreter-Rolle ist dann weniger mystisch oder rituell, wenn wir uns vergewissern, dass wir als Lebewesen immer schon in verschiedene Atmosphären hineingestellt und zugleich darauf angewiesen sind. Das Darin-Sein ist daher eine mindestens ebenso grundlegende Erfahrung wie das Haben oder Sein, wenn es diese auch immer wieder neu zu entdecken gilt.