Sozialapriorismus
Herkunft
Der Sozialapriorismus scheint nicht älter als der deutsche Idealismus zu sein. Ich werte ihn aus Ausgeburt des schlechten Gewissens oder Unzulänglichkeitsbewusstseins, das der Idealist ursprünglich angesichts der Aufgabe hat, fremde Subjekte (etwa andere Menschen) gelten zu lassen. Er rückt nämlich die Welt in die von Piaget den kleinen Kindern zugeschriebene egozentrische Perspektive eines wie auch immer sublimierten Ichs, das mit einem von Wittgenstein ablehnend gemeinden Bild dem Auge für sie als Gesichtsfeld verglichen werden könnte. Alles, was in der so vergegenständlichten Welt vorkommt oder gar begegnet, kann sich in idealistischer Sicht dem Bann dieser Perspektive nicht entziehen; es vermag nicht mehr, mit der Selbständigkeit, die einem anderen Subjekt zukäme, - nämlich mit einer fremden, ebenbürtigen Perspektive - dem Ich, dem erfahrenen Weltauge des Idealisten entgegenzutreten. Sogar Wittgensteins Sozialapriorismus lässt den Ursprung aus dieser idealistischen Quelle noch erkennen. Man braucht nur die Bemerkungen über den Solipsimus im Tractatus logico-philosophicus mit dem 2. Kapitel von Natorps Buch Allgemeine Psychologie nach kritischer Methode zu vergleichen, um sich von der neukantiantisch-idealistischen Strömung im Denken des jungen Wittgenstein zu überzeugen. Wittgensteins Solipsismus teilt mit dem idealistischen Neukantianismus Natorps die egozentrische Perspektive, wenn Wittgenstein auch gerade den Idealismus davon abzuwehren sucht; das Missbehagen an dieser mag ihn später zu dem Versuch verführt haben, den idealistischen Teufel mit dem Beelzebub des Sozialapriorimus auszutreiben.
Mir scheint der Sozialapriorismus überhaupt eine falsche Tendenz zu sein. Er verwandelt den leibhaftigen, uns überraschend begegnenden und unvorhersehbar jeweils neu in Anspruch nehmenden Anderen in das durch gewundene Spekulation a priori beschworene Gespenst des Anderen überhaupt, vor dem schon Satre - obwohl selbst Sozialapriorist - eindringlich gewarnt hat. Darin steckt eine Verkennung, die der Verfälschung des Göttlichen als des Zufälligsten zum Konstruktionsprodukt des Monotheismus analog ist. Ebenso, wie ich im Zusammenhang der Entlarvung dieser falschen Tendenz in meiner Phänomenologie des Göttlichen alle spekulative Theologie radikal abgebaut habe, um die Wurzeln ursprünglicher Betroffenheit von Göttlichem zu kritischer Rechenschaftsfähigkeit zu befreien, verabschiede ich nun den Sozialapriorismus und wende mich den Quellen der Erfahrung zu, in der mir der Andere faktisch zustößt." (S-V 21f)