Unsichtbare Fesseln

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Unsichtbare Fesseln.

Befreiung aus Abhängigkeit und Selbstentfremdung

Autoren: Dr. Ero Langlotz, Dr. Thomas Latka

Vorwort

LEBEN EINZELN UND FREI WIE EIN BAUM UND BRÜDERLICH WIE EIN WALD DAS IST UNSERE SEHNSUCHT Nazim Hikmet, türkischer Freiheitskämpfer und Dichter

Wenn wir diese Worte auf uns wirken lassen, spüren wir Ruhe, Kraft, Klarheit, Glück. Diese Verse verbinden unsere beiden Grundbedürfnisse in einem einprägsames Bild. Der Psychoanalytiker Stavros Mentzos beschreibt sie als das Bedürfnis nach Freiheit, Selbst-Bestimmung, Autonomie einerseits, und das nach Bindung, Zugehörigkeit andererseits. Wenn wir in einer Beziehung beides erleben können, sind wir glücklich. Ist dieses Glück nur eine Illusion? Eine Utopie?

Warum erleben so viele das als Grund-Konflikt: Als müssten sie ihr „Selbst“ verraten, wenn sie Nähe und Bindung suchen, oder auf Nähe und Bindung verzichten, wenn sie sich selber spüren wollen? Ist dies Dilemma angeboren? Oder ist es erworben und lösbar?

Die Lösung ist, wie bei einem KOAN, unerwartet und einfach. Es ist die Grenze und der innere Raum, den sie ermöglicht.

Die Phänomene

Selbst und Grenze

LOGO (todo)

Dies Logo besteht in einer sich öffnenden Rose, umgeben von einem nicht ganz geschlossenen Kreis. Die Rose steht für das Selbst, das sich entfalten, seine Schönheit zeigen und seinen Duft verbreiten möchte. Der Kreis symbolisiert eine Grenze und den inneren Raum, der es der Rose ermöglicht, sich ungestört zu entfalten. Dies Logo drückt die Grunderfahrung aus: Unser Selbst kann sich nur dann ungestört entfalten, wenn es einen geschützten „inneren Raum“ gibt, wenn es durch eine Grenze geschützt wird vor dem Fremden der Umgebung.

Selbst

Als Selbst wird hier mit Jung das Eigentliche, das jeweils Einmalige, die authentischen Bedürfnisse und Gefühle einer Person verstanden. Das Selbst ist unverlierbar, aber wir sind mit ihm nicht immer bewusst verbunden. Es entfaltet sich, indem sich Bedürfnisse und Gefühle in der Begegnung mit anderen differenzieren. Das ermöglicht Identität, Orientierung. Das ist die Voraussetzung für ein Selbst-bestimmtes Leben, für Autonomie. Autonomie – aus dem griechischen autos = selbst, eigen und nomos = Gesetz - bedeutet in unserem Zusammenhang, sich nach den eigenen (statt fremden) Wahrnehmungen, Gefühlen, Impulsen orientieren zu können. Damit das Selbst sich in dieser Weise entfalten kann, bedarf es zweierlei.

Selbstentwicklung

Wir beginnen als befruchtete Eizelle in der Gebärmutter unsere Mutter, extrem abhängig und bedürftig nach Nähe, Wärme, Zuwendung, Liebe. Dies Grundbedürfnis nach Nähe und Zugehörigkeit bewirkt, dass wir uns auf unsere Mutter einstellen, uns ihr anpassen, uns mit ihr identifizieren. Dabei begegnen wir Mutter's Empathie, die sich auf uns einstellt, unsere Bedürfnisse spürt, die wir noch nicht spüren oder noch nicht ausdrücken können. Für die Wahrnehmung unseres Selbst, für unsere Annäherung an uns selbst scheint entscheidend, dass unsere ersten Bezugspersonen uns nicht als einen Teil von sich, als ihr Eigentum ansehen, sondern unser Selbst, das heisst unser Eigenstes, Besonderes, Unverwechselbares wahrnehmen und wertschätzen, auch und gerade dann wenn es von dem ihren unterschiedlich ist! Unser zweites Grundbedürfnis, das nach Freiheit und Selbstbestimmung (Autonomie), nach Authentizität kommt mit unserem – aber auch mit Mutters! - Bedürfnis nach Nähe immer wieder in Konflikt.

Diese beiden Grundbedürfnisse

Diese beiden Grundbedürfnisse scheinen zunächst nicht oder nur schwer vereinbar. Sie bestimmen unsere Entwicklung und unser Leben. Sie sind verantwortlich für Krisen und Wachstumsschritte. Um beide Grundbedürfnisse zu vereinen, entwickeln wir immer neue, differenziertere Strategien, mit dem Ziel einer flexiblen Abgrenzung, die uns ermöglicht, gleichzeitig die Nähe zum anderen und die Verbindung zu uns selbst zu erleben. Diese Abgrenzung erst erlaubt es, uns dem anderen zu zeigen, als der, der wir wirklich sind. Erst die Grenze macht Begegnung, macht Kontakt und Wachstum möglich!

Grenze

Wir erleben Grenze oft als Barriere, als „Stacheldraht“, als feindlich, starr, abweisend, verletzend, einengend. Grenze hat auch einen ganz anderen Aspekt: den des Schutzes. Bereits die ersten Lebewesen, die Einzeller verfügten über eine derartige Grenze: die semipermeable (halbdurchlässige) Zellmembran. Eine derart flexible Grenze trennt und verbindet zugleich. Durch diese Grenze entsteht ein innerer Raum, der sich von der Umgebung unterscheiden kann. Das ist die eine Grundbedingung für Leben! Und: Eine flexible Grenze ermöglicht den notwendigen Austausch mit der Umgebung.

Auch die Entwicklung des Selbst bedarf der Grenze mit ihren beiden Aspekten: Schutz des „inneren“ Raumes vor Überfremdung, vor Selbst-Entfremdung, und Begegnung und Austausch mit dem Anderen. Eine flexible Abgrenzung löst das Dilemma: es ermöglicht Nähe zum Anderen ohne die Verbindung zu sich Selbst zu verlieren. Und: In der Abgrenzung kann sich unser Aggressionspotential konstruktiv entfalten.

Die fehlende Grenze

Alle (!) meine Klienten haben Probleme mit dieser Grenze. Die Betroffenen merken gar nicht, dass sie sich schlecht abgrenzen können, dass sie sich nicht als vom Gegenüber getrennt wahrnehmen können. Sie sind sich dessen gar nicht bewusst, sie kennen es auch gar nicht anders. Ohne dass es ihnen bewusst ist, stellen sie mit dem Gegenüber einen „gemeinsamen seelischen Raum“ her. Sie versetzen sich sofort in den anderen hinein, beziehungsweise stellen ihm sofort „den eigenen Raum zur Verfügung“. Und wenn sie es merken, wissen sie nicht wie sie es ändern können.

Experiment: Selbsterfahrung der „Grenze“ =

Selbsterfahrung der „Grenze“ In einem einfachen Test können sie selber erforschen, wie es mit ihrer Abgrenzung steht, welches die „kritische Distanz“ ist, ab der sie sich selbst nicht mehr spüren. Dazu brauchen sie ihren Partner. Es genügt aber auch ein Stuhl als Repräsentant des Partners – oder eines Elternteils. Stellen sie sich in etwa 10 m dem Partner /dem Stuhl gegenüber, schliessen sie die Augen, um sich selbst, das heisst ihre Atmung, den Fußboden zu spüren, so lange, bis sie ganz „bei sich“ sind. Öffnen sie die Augen, versuchen sie gleichzeitig das Gegenüber anzuschauen und bei sich zu bleiben. Dabei gehen sie langsam, Schritt für Schritt auf den Anderen zu, solange, bis sie merken, dass sie sich nicht mehr spüren können, dass sie nicht mehr bei sich sind. Dann gehen sie soweit zurück, bis sie sich wieder gut spüren können. Bei einem Abstand der kleiner ist, als diese „kritische Distanz“, spüren sie mehr den Anderen als sich selbst. Sei es, dass sie „in den anderen hinein schlüpfen“, sei es, dass sie den Anderen – seine Stimmung, seine Gefühle, seine Gedanken - in sich selbst spüren. Die Unterscheidung zwischen Eigenem und Fremden, DIE GRENZE ist nicht mehr da. Dies Experiment zeigt zugleich, dass die fehlende innere Grenze ersetzt werden kann durch eine äussere Grenze, z.B. durch eine grössere Distanz. Oder auch durch eine Trennwand, z.B. einen Paravent. Der Paravent gehört daher mit zu den „Werkzeugen“ der Arbeit.

Aspekte der fehlenden Abgrenzung

Über-Anpassung

  • Ich spüre sehr schnell, wie es dem Gegenüber geht, was er fühlt, was er denkt.
  • Ich habe zuviel Mitleid mit anderen, manchmal leide ich mehr als der Betroffene.
  • Ich spüre, was andere von mir erwarten.
  • Ich möchte andere nicht enttäuschen.
  • Ich fühle mich dafür verantwortlich, dass es dem anderen gut geht.

Viele passen sich unbewusst zu sehr dem Gegenüber an. Das hat unterschiedliche Facetten. Ohne es zu beabsichtigen, versetzen sie sich in den anderen hinein. Sie entwickeln ein unglaubliches Gespür dafür, was der jeweils andere fühlt, denkt, erwartet. Sie tendieren dazu, auch unausgesprochene Wünsche des anderen zu erraten, sie ihm „von den Augen abzulesen“.

Fatal: sie halten diese fehlende Abgrenzung für „Liebe“. Und wenn der andere sie nicht genauso „liebt“, halten sie ihn für egoistisch! Es scheint, als wären sie mit ihrer Energie, mit ihren „Wahrnehmungs-Antennen“ gar nicht bei sich selbst, sondern beim Gegenüber! Sie leiden mit dem anderen mit, als beträfe es sie selber! Als dürfe es ihnen selbst gar nicht gut gehen, wenn es dem anderen schlecht geht! Mitleiden statt Mitgefühl!

Sie neigen dazu, sich mit dessen Gefühlen, Gedanken zu identifizieren, als seien es ihre eigenen, als gäbe es gar keinen Unterschied mehr zum Gegenüber, als seien sie bei ihm zuhause, als seien sie „blinder Passagier“ im fremden Boot. Anders gesagt: sie stellen seinen Gefühlen, Bedürfnissen und Überzeugungen den eigenen „inneren“Raum zur Verfügung, der eigentlich ihrem „Selbst“, ihren eigenen Bedürfnissen. Gefühlen und Überzeugungen zusteht! Das heisst, sie sind nicht „Kapitän auf dem eigenen Boot“ – kein Wunder wenn sich dort fremde „Lotsen“ betätigen!

Die symbiotische Identifizierung - „Verschmelzung“ , „Konfluenz“- mit dem Anderen kann so weit gehen, dass sie das Leben des anderen leben, als sei es ihr Eigenes. Verbunden mit dieser Tendenz zum Verschmelzen ist das Phänomen der gegenseitigen Abhängigkeit. Der Betroffene macht sich für den anderen unentbehrlich, der andere „braucht“ ihn. Und er selbst „braucht es, gebraucht zu werden“.

Diese Tendenz zur Überanpassung, zur Verschmelzung mit dem anderen erschwert es, eigenen Gefühle und Bedürfnisse zu spüren, entfremdet von sich selbst.

Tendenz zur Selbst-Entfremdung

  • Ich weiß nicht, was ich will;
  • Ich kann mich nicht entscheiden;
  • Ich weiß nicht, wer ich eigentlich bin;
  • Ich kenne meinen Platz nicht.

Für manche scheint es überhaupt schwierig, sich selber, ihre Gefühle, Wünsche und Bedürfnisse wahrzunehmen, so als hätten sie ihre Antennen, ihre Sensoren abgeschaltet, so als seien sie nicht ganz bei sich, als seien sie sich selbst entfremdet. Sie geben fremden Gefühlen, Gedanken, z.B. kritischen Äusserungen bei sich ungehindert Raum, als gäbe es keine Filter. Sie neigen dazu, sich „mit den Augen des anderen“ zu sehen, sie „identifizieren sich durch die anderen“. Das wird durch folgenden „Psychiatrie -Witz“ verdeutlicht.

Witz: Die Katzenphobie

Ein Mann leidet unter einer Katzen-Phobie, jede Katze jagt ihm panische Ängste ein. Er traut sich nicht mehr auf die Strasse. Verzweifelt wendet er sich an einen Psychiater. Dieser – ein erfahrener Mann – findet sofort die Ursache: Der Mann glaubt, eine ....Maus zu sein! In zwei Wochen Intensiv-Therapie lernt der Mann, dass er keine Maus ist sondern ein Mensch. Geheilt verlässt er die Klinik.....um nach fünf Minuten schreckensbleich zurück kehren. Der Psychiater: was ist los? „Ich habe eine Katze gesehen!“ Na und? Sie wissen doch, dass sie keine Maus sind! „Ja...ich schon.....aber ........weiss das auch die Katze??