Neurokonstruktivismus: Unterschied zwischen den Versionen

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Der Neurokonstruktivismus ist eine philosophische Erkenntnistheorie, die versucht wird, neurobiologisch zu begründen.
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Der Neurokonstruktivismus versucht mit naturwissenschaftlichen Fakten eine erkenntnistheoretische Position zu begründen und begeht damit einen Kategorienfehler. Inhaltlich behauptet der Neurokonstruktivismus, dass die leibliche [[Subjektivität]] einzig ein Konstrukt des (sich im realen Körper befindlichen) Gehirns ist und versucht dies durch neurowissenschaftliche Fakten zu belegen. Er knüpft damit unter materialistischen Vorzeichen an die philosophische Tradition der [[Naturalisierung]] an, die stets versuchte, die primäre Erfahrung von [[Räumlichkeit]] und Meinhaftigkeit des erleben Lebens zu unterminieren. 
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Der Neurokonstruktivismus ist eine Modephänomen in einer Zeit, in der neurowissenschaftliche Erkenntnisse in Mode gekommen ist. Es ist nicht zu bestreiten, dass die Neurowissenschaften wichtige Erkenntnisse für Medizin und Heilung erforschen. Aus der Behauptung "Veränderungen im Gehirn wirken sich auf das Erleben aus" lässt sich logisch aber nicht folgende neurokonstruktivistische Behauptung ableiten: "Veränderungen im Erleben sind nichts anderes als Veränderungen im Gehirn". Aus der Tatsache, dass Erleben subjektiv ist, folgt nicht die Generalisierung, dass Erleben nur im Subjekt und sogar nur im Gehirn des Subjekts stattfindet.
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Siehe: [[Syntopie]] von [[Leib]] und [[Körper]], [[Konstruktivismus]]
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Der neurobiologische Konstruktivismus beruht auf einer doppelten "Entleiblichung":
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* zum anderen wird das leibliche Subjekt zu einem Bewusstseins-Ich hypostasiert und in eine mentale Innenwelt eingesperrt.|F in: Körperskandale 112}}
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{{c|Wir sind von der neurokonstruktivistischen These ausgegangen, der ontologische Status der erfahrenen Wirklichkeit sei der eines subjektiven Bildes oder eines virtuellen Modells, das vom Gehirn konstruiert wird. Hinter dieser These steht eine im Grunde immer noch dualistische Aufteilung der Welt in eine körper- und weltlose Subjektivität einerseits und eine physikalistisch reduzierte, materielle Welt andererseits. Subjekvität wird - im neuen Gewand des Konstruktivismus - nach wie vor idealistisch gedacht, zugleich aber als Konstrukt auf rein materielle Prozesse zurückgeführt.|F-DG 47}}
  
Siehe: [[Konstruktivismus]]
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Die scheinbar naheliegende Annahme, dass alles menschliche Erleben kausales Produkt von Hirnfunktionen ist, erweist sich also bei näherer Betrachtung als abenteuerlich grotesk. Das Dilemma entfällt, wenn man darauf verzichtet, das menschliche Erleben in dieser Weise kausal abzuleiten, und sich auf die unzweifelhafte Korrelation beschränkt, kraft deren gewisse Hirnfunktionen und Erlebnisse für einander notwendig und zureichend sind.|S-BE 111f}}
  
 
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* https://www.klinikum.uni-heidelberg.de/fileadmin/zpm/psychatrie/fuchs/Hirnwelt_Lebenswelt.pdf
 
* https://www.klinikum.uni-heidelberg.de/fileadmin/zpm/psychatrie/fuchs/Hirnwelt_Lebenswelt.pdf
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Der Neurokonstruktivismus vertritt zwei sich widersprechende Behauptungsstränge, und wechselt in Rechtfertigungsversuchen unbedarft hin und her.
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Aktuelle Version vom 30. Juli 2017, 13:31 Uhr

Definition

Der Neurokonstruktivismus ist eine philosophische Erkenntnistheorie, die versucht wird, neurobiologisch zu begründen.

Der Neurokonstruktivismus versucht mit naturwissenschaftlichen Fakten eine erkenntnistheoretische Position zu begründen und begeht damit einen Kategorienfehler. Inhaltlich behauptet der Neurokonstruktivismus, dass die leibliche Subjektivität einzig ein Konstrukt des (sich im realen Körper befindlichen) Gehirns ist und versucht dies durch neurowissenschaftliche Fakten zu belegen. Er knüpft damit unter materialistischen Vorzeichen an die philosophische Tradition der Naturalisierung an, die stets versuchte, die primäre Erfahrung von Räumlichkeit und Meinhaftigkeit des erleben Lebens zu unterminieren.

Der Neurokonstruktivismus ist eine Modephänomen in einer Zeit, in der neurowissenschaftliche Erkenntnisse in Mode gekommen ist. Es ist nicht zu bestreiten, dass die Neurowissenschaften wichtige Erkenntnisse für Medizin und Heilung erforschen. Aus der Behauptung "Veränderungen im Gehirn wirken sich auf das Erleben aus" lässt sich logisch aber nicht folgende neurokonstruktivistische Behauptung ableiten: "Veränderungen im Erleben sind nichts anderes als Veränderungen im Gehirn". Aus der Tatsache, dass Erleben subjektiv ist, folgt nicht die Generalisierung, dass Erleben nur im Subjekt und sogar nur im Gehirn des Subjekts stattfindet.

Die Neurobiologie unterschlägt den Primat der lebensweltlichen oder Teilnehmer-Perspektive, in der alleine sich Lebendiges und Leibliches wahrnehmen lässt. Stattdessen vertritt sie letztlich einen metaphysischen Realismus, der das "Gehirn an sich" erkennen zu können glaubt, und der Lebenswelten als bloße Konstrukte betrachtet. (Fuchs in Körperskanale, 113)

Siehe: Syntopie von Leib und Körper, Konstruktivismus

Doppelte Entleiblichung

Der neurobiologische Konstruktivismus beruht auf einer doppelten "Entleiblichung":

  • Zum einen nämlich wird der lebendige Leib objektiviert zu einem bloßen Körperding;
  • zum anderen wird das leibliche Subjekt zu einem Bewusstseins-Ich hypostasiert und in eine mentale Innenwelt eingesperrt. (F in: Körperskandale 112)

Zitate

Wir sind von der neurokonstruktivistischen These ausgegangen, der ontologische Status der erfahrenen Wirklichkeit sei der eines subjektiven Bildes oder eines virtuellen Modells, das vom Gehirn konstruiert wird. Hinter dieser These steht eine im Grunde immer noch dualistische Aufteilung der Welt in eine körper- und weltlose Subjektivität einerseits und eine physikalistisch reduzierte, materielle Welt andererseits. Subjekvität wird - im neuen Gewand des Konstruktivismus - nach wie vor idealistisch gedacht, zugleich aber als Konstrukt auf rein materielle Prozesse zurückgeführt. (F-DG 47)

Der Neurophilosoph verhält sich wie jemand, der den besonders sinnreichen Mechanismus einer Spielzeugeisenbahn entziffert hat (in dem Sinn, dass er deren Funktionieren in den meisten Fällen richtig vorhersehen kann) und daraus schließt, der Erbauer müsse die Gestalt einer Lokomotive haben, oder eines Analogons der Lokomotive, gebildet aus Strichfiguren, die zur Entzifferung gebraucht wurden und den vorhin erwähnten intervenierenden Variablen entsprechen. (S-BE 111)

Der Neurophilosoph hält nämlich das kausale Gehirn für einen Gegenstandsbereich, den die naturwissenschaftlichen Theorien mit intervenierenden Variablen korrekt beschreiben, obwohl der phänomenale (vermeintlich vom kausalen Gehirn produzierte) Bereich eine ganz andere Beschaffenheit besitzt. Diese Diskrepanz passt schlecht zu der vorausgesetzten Abspiegelung des kausalen Gehirns in seinem Produkt.

Die scheinbar naheliegende Annahme, dass alles menschliche Erleben kausales Produkt von Hirnfunktionen ist, erweist sich also bei näherer Betrachtung als abenteuerlich grotesk. Das Dilemma entfällt, wenn man darauf verzichtet, das menschliche Erleben in dieser Weise kausal abzuleiten, und sich auf die unzweifelhafte Korrelation beschränkt, kraft deren gewisse Hirnfunktionen und Erlebnisse für einander notwendig und zureichend sind. (S-BE 111f)

Literatur:

Neurokonstruktivistischer Dualismus

Der Neurokonstruktivismus vertritt zwei sich widersprechende Behauptungsstränge, und wechselt in Rechtfertigungsversuchen unbedarft hin und her.


Wahrnehmung Wahr-Gebung
Objektivität der Erkenntnisse: Naturwissenschaftliches Abbild Subjektivität als phänomenologische Grundlage
Wissenschaftlicher Realismus Lebensweltlicher Antirealismus
Realismus gegenüber der Wissenschaft Antirealismus gegenüber der Lebenswelt
reales Gehirn phänomenales Erleben