Ludwig Wittgenstein

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Früher und später Wittgenstein

Während seine Strategie damals der Objektivismus war, als sinnvoll nur die Sätze der Naturwissenschaft über objektive Tatsachen anzuerkennen (Tractatus 6.53), ist sie im Spätwerk der Konformismus, bezogen auf die Gepflogenheiten einer Sprachgemeinschaft, der der Sprecher angehört. Erfahrungen, für die es in solchen Gepflogenheiten keine Anhaltspunkte gibt, lassen sich dann nicht mehr formulieren. (S-SaP 382)

  • Der frühe Wittgenstein versteckt die Subjektivität ins Unsagbare hinter der unübersteigbaren Mauer der Sätze der Naturwissenschaft (Objektivismus)
  • der späte versteckt sie hinter der Mauer der Konvention der Sprachspiele und sonstigen Lebensformen (Konformismus)

Deren Hervorhebung könnte ein Gewinn sein, wenn er die Situationen nicht in Konstellationen verkehrte.

Das Verstecken

  • hinter objektiven Tatsachen der Wissenschaft oder
  • hinter Konventionen

entrückt die Subjektivität ins Niemandsland rezessiver Entfremdung. (S-Weg 588)

Die rezessive Entfremdung der Subjektivität

Subjektive Tatsachen sind nicht anerkannt worden.

Die kraftvoll umpflügende Leistung Wittgensteins im Acker des philosophischen Denkens wird aber dadurch vergiftet, dass er die Subjektivität aus dem Bereich des objektivierenden Besprechens auszugrenzen trachtet,

  • im Frühwerk durch Ausweisung über die Grenzen der Sprache,
  • im Spätwerk durch die Verbannung eines solchen Besprechens in eine sophistisch bis zur Absurdität verdrehte Privatsprache, deren offensichtliche Unmöglichkeit gar nicht damit zu tun hat, dass beliebige kompetente Sprecher in der Lage sind, subjektive Tatsachen, die gerade nur für Einen subjektiv und höchstens durch ihn aussagbar sind, eindeutig zu kennzeichnen und auf diese Weise durch Aussage objektiver Tatsachen zutreffend zu besprechen. (S-NGdE 335)

Dass ich z.B. Schmerzen haben, ist für Wittgenstein so wenig eine Tatsache, dass ich nicht einmal sinnvoll sagen kann, ich wisse es; auf dieses wunderliche, merkwürdig oft nachgesprochene Paradox komme ich unter dem Titel des Solipsismus in §295 zurück. Indem er, übrigens mit Recht, die Vorstellung von einem privaten Schmerz, den nur Einer für sich allein haben und wahrnehmen könne, suspekt macht, sucht er (wie auch in seiner Polemik gegen eine "Privatsprache") das Private, das er - mindestens als Redethema - verdächtigen oder verbannen möchte, an falscher Stelle: Nicht in meinem Schmerz ist es zu finden, den prinzipiell (unter sonderbaren Umständen) auch ein Anderer haben, gewiss aber (ganz alltäglich) auch ein Anderer zur Kenntnis nehmen kann, sondern in der subjektiven Tatsache, dass ich Schmerzen haben, aber auch nur insofern, als diese nur für mich bestimmt und nur durch mich angemessen beschreibbar ist. Leider ist Wittgensteins Beispielvorrat so eintönig, dass er für die Verkennung der Subjektivität von Sachverhalten nur an Hand eines einzigen Musters wirbt, nämlich des Schmerzes, der in grober Weise aufdringlich ist, während er zartere Fälle affektiven Betroffenseins, die in mancher Hinsicht hintergründiger und für die betroffene Person tiefer maßgeblich sind, außer Acht lässt. Ich denke etwa an Gefühle, die so verdrängt sind, dass für den Betroffenen die Aufdeckung und eindringliche Erfassung der für ihn subjektiven Tatsache, dass er selbst diese Gefühle hat oder fühlt, wichtige heilende Bedeutung für die Linderung seiner Leiden und die reichere und lebendigere Entfaltung seiner Persönlichkeit besitzt. Die Aufdeckung und Aneignung solcher subjektiver Tatsachen ist das Ziel der Technik des experiencing in der modernen klientenzentrierten Psychotherapie, der bei der Bewältigung ihrer wichtigen Aufgabe ein schlechter Dienst erwiesen würde, wollte man Tatsachen der Art, dass ich z.B. traurig oder entzückt oder gerührt oder gepeinigt oder von heimlicher Sorge erfüllt usw. bin, die Anerkennung als Tatsachen, von denen ich sinnvoll sagen kann, dass ich sie weiss, sie kenne oder verkenne, bloß deshalb verweigern, weil es hinsichtlich der Nuance, dass es sich gerade um mich selber handelt, keine Kriterien, keine ablesende Prüfung und Beobachtung gibt. Das ist freilich das Stigma aller subjektiven Tatsachen; aber "auch dem entschlossenen Positivisten werden in seinem Leben schmerzliche Situationen, in denen er nicht umhin kann, mit Nachdruck davon Kenntnis zu nehmen, dass er selbst es ist, um den es gerade handelt, wohl kaum erspart bleiben." (S-V 10f)

Der Singularismus

Wittgenstein erhebt die Zusammensetzung von Sachverhalten aus Sachen zu einem grundlegenden Dogma seiner frühen, im Tractatus logico-philosophicus niedergelegten Lehre. (S-III4, 385)

Nach der Logisch-philosophischen Abhandlung hat Wittgenstein

Er überträgt die singularistische Maxime, dass alles ohne weiteres einzeln ist, von den Sachen (im gewöhnlichen Sinn) auf Normen (die Programme für möglichen Gehorsam) und opponiert auf dieser Grundlage gegen die Regeln wie die Nominalisten ... gegen die Universialien. (S-DWdeP2 583)

Abbildende Beziehung

Wittgenstein übernimmt hier (unwissentlich?) den Repräsentationsbegriff von Leibniz für die abbildende Beziehung, "die zwischen Sprache und Welt besteht." (S-DWdeP2 581)

Verkennung der Situationen

Wittgenstein spricht selbst von Situationen, die das menschliche Verhalten leiten, aber ihm als radikalem Singularisten fällt dazu nichts ein als Konstellationen, Vernetzungen einzelner Faktoren, sogenannte Sprachspiele nach dem Muster des Schach- oder Fußballspiels, d.h. von Verhaltenssequenzen, die in lauter einzelne Schritte gegliedert sind. ... Diese Fragen [z.B. Was lässt sich über ein Gesicht sagen?], mit denen Wittgenstein den vielsagenden Eindruck eines menschlichen Gesichtes anfechten will, verraten einen eingefleischten oder in der Wolle gefärbten Singularisten, der die unwillkürliche Erfahrung nicht einfach so, wie sie sich gibt, gelten lassen will, sondern einzelne Explikate und Rechtfertigungsgründe sucht, die sozusagen Stück für Stück auf den Tisch gelegt werden können. (S-DWdeP2 585f)

... krankt an seiner Blindheit für Situationen. Daran ändert sich nichts dadurch, dass er selbst gegen die Isolierung sogenannter innerer Vorgänge deren Einbettung in Situationen hervorhebt. Sein Defizit in Bezug auf den von mir konzipierten Situationsbegriff besteht darin, dass er von dem chaotisch-mannigfaltigen, durch Unentschiedenheit hinsichtlich Identität und Verschiedenheit mehr oder weniger binnendiffusen, keiner Anzahl fähigen Charakter des Hofes der Bedeutsamkeit in der ganzheitlich abgerundeten Situation keinen Begriff hat. Er denkt in Aggregaten, wenn er von Situationen, Gepflogenheiten, Handlungsweisen spricht. (S-SaP 397)

Wittgenstein ist übrigens keineswegs unsensibel für vielsagende Eindrücke; ... Sein Verfahren mit solchen Situationen pflegt aber reduktionistisches Wegdeuten zu sein. (S-SaP 401f)

Wittgenstein scheint sich hauptsächlich dafür zu interessieren, die Introjektion dieser Situation in seelische Erlebnisse oder Bewusstseinsinhalte zu vermeiden, kommt aber nur auf äußere Umstände, Benehmen und Zukunftsperspektiven als Ausweg und nicht darauf, die betreffenden Situationen genau so, wie sie sich in der Lebenserfahrung darbieten, ohne Introjektion gelten zu lassen; offenbar nimmt er an der chaotisch-mannigfaltigen Ganzheit Anstoß, wie namentlich die erste Äußerung zeigt, wo er einen Einwand lanciert, der seiner paradoxen Regelskepsis nachgebildet ist: Er will von dem Vielsagenden nur gelten lassen, was sich Stück für Stück aufsagen lässt oder gar tatsächlich schon aufgesagt worden ist. ... Ein Rest von Physiologismus verführt ihn, klüger sein zu wollen als die Phänomene und die Bedeutsamkeit der Situationen als nachträgliche, begriffliche Zutat zum eigentlichen Wahrgenommenen auszugeben. (S-SaP 403)

Verkennung des Leibes

Ludwig Wittgenstein ist berühmt für seine scharfen Argumente gegen die Einbeziehung körperlicher Empfindungen bei der philosophischen Erklärung von geistigen Schlüsselbegriffen wie Emotion, Wille und unsere Vorstellung vom Selbst. (RS-KB 39)

Solipsismus

Siehe: Sozialapriorismus

Gegen die Introjektion: Überziehung durch Privatsprache

Am Kampf gegen die Introjektion beteiligt sich Wittgenstein mit allerlei treffenden Einwänden gegen die "gewöhnliche verbreitete Denkkrankheit, hinter allen Handlungen der Menschen Zustände der Seele zu vermuten, aus denen die Handlungen entspringen", auch mit Witz. Er überzieht aber den Angriff, indem er zwar nicht die ganz privaten und intimen Erlebnisse, wohl aber ihre sprachliche Zugänglichkeit bestreitet, weil dazu eine Privatsprache gehören würde, die kein anderer als der Betroffene verstehen könnte;... (S-DWdeP2 586)