Dingontologie

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Die Vorstellung, dass die Welt aus Konstellationen von Dingen mit Eigenschaften besteht.

Die Dingontologie bildet neben der Prozess- und Feldontologie den dritten Pol im ontologischen Dreieck.

Ausgangspunkt: Einzelheit

Bedingung der Möglichkeit eines einzelnen Dinges ist die Einzelheit.

Ontologisches Leitbild: Festkörper

Die Dingontologie geht aus von der "Herrschaft des Festkörpermodells" (S-DuG 36).

Das Leitmodell der dominanten Richtung des europäischen Denkens seit Demokrit ist der feste Körper im zentralen Gesichtsfeld mit ablesbaren Merkmalen, aber degeneriert zu deren Gerüst oder Träger, woraus in der Ontologie das Schema von Substanz und Akzidens (mit Nachrangigkeit der Relationen) wird. Dieses Festkörpermodell verengt nicht nur die Perspektive des Denkens mit der Folge großer Verrenkungen, sondern wird nicht einmal seinem Maßstab, dem festen Körper gerecht. Feste Körper sind Dinge. (S-DuG 222)

Die hierarchische Auszeichnung der Substanzfrage "Was ist etwas?" vor dem "Wie, wieviel, wie groß, wie klein ist etwas?" und vor der Frage nach den Beziehungen in denen etwas zu etwas anderem steht, bezeugt eine Privilegierung fester Körper und damit die Negation des Atmosphärischen, das eben nicht vom Charakter eines Dings und nicht von dinglicher Einzelheit ist. Aus diesem Primat der Substanz folgt unmittelbar der zweite wesentliche Aspekt der Kritik dominanter ontologischer Leitfäden: Es ist die Orientierung an festen Körpern, die Schmitz, wenig zögerlich, als eine "Herrschaft des Festkörpermodells" (S-DuG 36) ausweist. Das Leitbild des festen Körpers bewirkt wiederum die Betonung des Einzelnen, d.h. des einzelnen festen Körpers, der zählbar, einer Gattung zuzuordnen und als Träger von Eigenschaften zu identifizieren ist. Voraussetzung für die Zahlfähigkeit einzelner Dinge ist ihre Zugehörigkeit zu Gattungen und damit ihre Unterscheidung nach Identität und Verschiedenheit. Die identifizierende, gattungsmäßige Ordnung des Mannigfaltigen ist also Voraussetzung für Zählbarkeit und Zahlfähigkeit. (KA in AE-GfA 89f)

Festkörperglauben

Mögliche These: Der Festkörperglauben war wichtig für die Entdeckung und Besorgung von (fester) Nahrung in der Steinzeit.

Es geht mir darum, etwas beizutragen, die übermächtigen Erbstücke der Substanz- und Einzelding-Metaphysik, die in den Köpfen der Menschen immer noch festsitzen, aufzulösen, Vorstellungen, die seit 2500 Jahren die Europäer mit einer grammatischen Luftspiegelung über den sogenannten harten Kern des Wirklichen blenden. Das Substanzdenken hat uns seit kaum vordenklichen Zeiten dazu verführt, das Wesentliche von Welt und Leben in dem und nur in dem zu suchen, was man dinglich anfassen kann, was stofflich und formal Bestand hat, was in den Objekten, die uns begegnen, als deren Essenz sich immerfort bewährt. Folglich begreifen wir in der Regel das Wesenhafte unter einer dingontologischen Auffassung. Die Substanz ist das, was die Welt im Innersten zusammenhält, und nur solche Dinge und Regelmäßigkeiten, die das Prädikat substantiell tragen, gelten nach allgemeinem Dafürhalten der Rede wert. In der Ordnung der Dinge und in der Ordnung der Worte herrscht dieselbe Voreingenommenheit für das Solide, Handgreifliche, Substantielle, Grundlegende in Verbindung mit dem Glauben, dass Einzeldinge, individuelle körperliche Objekte und Personen das Rückgrat des Wirklichen bilden. So gesehen ist unsere Kultur ihrer philosophischen Grammatik nach immer noch, wie in den Tagen des Aristoteles, ganz substantialistisch und individualistisch engagiert - daran hat die jüngere Wende zu einem funktionalistischen und kybernetischen Denkstil viel weniger geändert, als gelegentlich behauptet wird. Im Alltag sind wir nach wie vor Hardcore-Metaphysiker - der Festkörperglauben, das hardware-Credo und der metaphysische Individualismus sitzen bei uns tiefer als alle neu hinzugelernten Reden über die Immaterialien, die Medien und die auftauchende Halbwelt zwischen Geist und Silikon, die sich Information nennt. (SL-B 487, aus: H-PS 188f)

Ich bin fest davon überzeugt, dass die Substanz heute ihre Rolle in der Physik ausgespielt hat. ... Die Physik muss sich ebenso der ausgedehnten Substanz entledigen, wie die Psychologie schon längst hat, die Gegebenheiten des Bewusstseins als 'Modifikationen' aufzufassen, die einer einheitlichen Seelensubstanz inhärieren." (Hermann Weyl: Was ist Materie? (1924), 240. Zit.n.: F-WCP 287)

Seit Demokrit (460-380 v.Chr) hatte sich die europäische Philosophie auf die festen Körper konzentriert, die leicht manipulierbar und intersubjektiv identifizierbar waren. Flüssiges und Atmosphärisches hingegen liefern im Sinne des Messens und Zählens kein so brauchbares Modell. (GL-LoK 312)

Die chinesischen Philosophen hingegen entschieden sich bei aller Anerkennung der festen Körper für das Atmosphärische und machten es zu ihrer vorrangigen Leitfigur. Mit anderen Worten, nicht das vereinzelte Ding und sein An-sich-sein (Substanz) interessierte sie in erster Linie, sondern das, was zwischen den Dingen war, sein Sein-für anderes (Funktionen/Relation). Und nicht nur das: Vielfach machte die Funktion das eigentliche Wesen der Sache aus; d.h. eine bestimmte Substanz war gar nicht fassbar unabhängig von Relationen und Funktionen. (GL-LoK 312)

Siehe: Ding als Festkörper, Demokrit


Vertreter

  • Demokrit
  • Platon
  • Aristoteles
  • Leibniz
  • Locke
  • Kant
  • Husserl

Ding und Person

Die Dingontologie beschreitet den Unterschied zwischen Ding und Person (bzw. auch Leib). Siehe Spaemann: Personen - Etwas und Jemand.

Volldinge und Halbdinge

Die Dingphilosophie bestreitet die Existenz der Halbdinge oder versucht - dort wo deren Effekte nicht mehr geleugnet werden können - diese in die Welt der Dinge einzubinden und geeignete Dinge notfalls zu erfinden, die die Luft, den elektrischen Strom, das Schwerefeld. (Vgl: S-WNP 105)

Zitate

Husserl

Es kommt hier zunächst das Allgemeinste in Betracht: dass das Universum vorgegeben ist als ein Universum von "Dingen". In diesem weitesten Sinn ist "Ding" ein Ausdruck für letztlich Seiendes, letzte Eigenschaften, Relationen, Verbindungen "Habendes" (als worin sich sein Sein auslegt), während es selbst nicht mehr in dieser Weise "Gehabtes", sondern eben das Letzt-"Habende" ist. (Husserl: Husserliana Band VI, S. 229, aus S-WNP 371)

Kritik an Husserl von Heidegger: Wir sprechen von einem Vorrang der Präsenz der Verweisungsganzheit und der Verweisungen vor den in der Verweisung selbst sich zeigenden Dingen. (Heidegger, Gesamtausgabe Band 20, 254; aus: S-WNP 372)

Populärwissenschaft

Die Thesen der Populärwissenschaft über die Welt zeichnet eine eigentümliche Unbekümmertheit aus. Die Wirklichkeit ist hiernach eine Sphäre von Objekten, die man wissenschaftlich methodisch analysieren und auf die man in der Regel auch technisch handelnd einwirken kann. (FV-OW 13)

Kritik

Situativ eingebettete Dingwahrnehmung

Jede Dingwahrnehmung ist geladen mit Protentionen, d.h. Sachverhalten, auf die man unwillkürlich gefasst ist, die sich aber meist nicht und nie sämtlich abheben, sondern nur fragmentarisch z.B. bei Enttäuschungen; ich spreche von Situationen als chaotisch-mannigfaltigen Ganzheiten, zu denen mindestens Sachverhalte gehören. (S-NP 29)

Messwerttaugliche Dingrudimente

Des weiteren wird die Seele ... nach Art solcher messwerttauglicher Dingrudimente auf ein assoziativ zusammengehaltenes Bündeln von Empfindungen und Vorstellungen ... reduziert. (S-NP 31)

Nähe zur Umwelt gestört

Prozesse der Verdinglichung und Versachlichung zerstören die Nähe zu der den Menschen umgebenden "Um-Welt". Die Wiederentdeckung der Nähe ist damit auch eine ("therapeutische") Aufgabe der Politik. (H-PS 171)


Der Selbstbezug der Systemtheorie

Wir bleiben dem Substanzfetischismus nach wie vor verfallen in dem Maß, wie wir glauben, dass zuerst die Dinge als einzelne kommen und dann ihre Beziehungen zueinander. Die bislang letzte und subtilste, überaus erfolgreiche Form des individualistischen Substantialismus tritt heute unter einem fast perfektem Incognito auf, in der Gestalt der Systemtheorie. In ihr werden Systeme als Quasi-Monaden angesetzt, die sich von ihren spezifischen Umwelten unterscheiden, wobei die Reihenfolge immer strikt beachtet wird: zuerst und vor allem die Binnenbeziehungen des Systems zu sich selbst, dann die Außenbeziehungen. Luhmann macht aus diesem Motiv seines Theoriedesigns kein Geheimnis, da er offen erklärt, Systeme verhalten sich vorrangig zu sich selbst und nur marginal zum sogenannten Anderen. Er sagt an einer Stelle unverblümt, Selbstbezug schlägt Fremdbezug tausend zu eins. (SP-DSudT 149f)

Dialogphilosophie

Die Dingphilosophie mündet schnell in eine Dialogphilosophie, wenn das Zwischen der Menschen thematisiert werden soll. Häufig wird die Relation zwischen zwei Dingen selbst wieder verdinglicht. (Vgl. den Vorwurf von Peter Sloterdijk in: SH-DSudT 139)

Vertreter: Martin Buber, Franz Rosenzweig

Im Gegensatz dazu [zum Substanzfetischismus] machen Autoren wie Bataille und zahlreiche andere, darunter auch ich, im übrigen vor allem die Dialogphilosophen auf der Linie von Buber und Rosenzweig, die Annahme, dass wir von einem autonomen Zwischen auszugehen haben. In der Sprache der philosophischen Tradition gesprochen, wir rehabilitieren endlich die Relation auf Kosten der Substanz; wir rehabilitieren auch das Akzidentielle auf Kosten des Essentiellen, die Situation auf Kosten der Komponenten. (SP-DSudT 150)

Sonstiges

Siehe: